Biologie einmal anders: Stammen Rotkäppchen und der böse Wolf aus demselben Wald?

Biologische Anylsemethoden liefern Hinweise zum Ursprung des Rotkäppchens

03.12.2013 | von Gastautorin: Dr. Liselotte Selter

Wo hat die Geschichte des Rotkäppchens seinen Ursprung? Ein Forscher hat dies nun systematisch untersucht. (Quelle: © iStockphoto.com/ MIMOHE)

Wo hat die Geschichte des Rotkäppchens seinen Ursprung? Ein Forscher hat dies nun systematisch untersucht. (Quelle: © iStockphoto.com/ MIMOHE)

Märchen wie das Rotkäppchen oder der Wolf und die sieben Geisslein werden Kindern weltweit in den verschiedensten Varianten erzählt. Aufgrund biologischer Analysemethoden liegen nun neue Hinweise zum Ursprung des Rotkäppchens und seiner Verwandtschaft zur Geschichte des bösen Wolfes vor.

Obschon manchmal grausam und angsteinflössend – Volksmärchen üben seit jeher eine grosse Faszination nicht nur auf Kinder, aber auch auf Erwachsene aus. Da sie vor allem mündlich überliefert wurden, veränderten sie sich – vergleichbar zu biologischen Arten – über die Jahrhunderte seit ihrer Entstehung. Gewisse Erzählelemente, wie z.B. die Gestalt des Helden, Bösewichts oder die Handlung wurden dabei beibehalten, während andere Elemente modifiziert wurden oder ganz verloren gingen. Umso verblüffender deshalb, dass Märchen unterschiedlicher Länder und Kulturen in ihren Elementen doch sehr ähnlich sind. Gemäß Traditionsforschern sind Volkserzählungen deshalb wertvolle Quellen, um Rückschlüsse auf vergangene Völkerwanderungen und kulturelle Zusammenstösse zu ziehen. 

Rotkäppchen evolvierte in Asien und Europa

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Der Wolf taucht in vielen Märchen als Bösewicht auf.

Der Wolf taucht in vielen Märchen als Bösewicht auf.

Bildquelle: © Doris Opitz / pixelio.de

Wenn Volksmärchen also „evolvieren“, sollte es möglich sein ihre Stammesgeschichte mit Hilfe von klassischen phylogenetischen Analysen zu verfolgen, so die Idee des Anthropologen Tehrani. „Phylogenie“ beschreibt eine Methode, die bisher vor allem in der Biologie verwendet wird, um die Entwicklungsgewichte von Arten zu untersuchen. Mithilfe mathematischer Modelle wird geprüft, mit welcher Wahrscheinlichkeit Individuen aufgrund gemeinsam vererbter Merkmale miteinander verwandt sind. Die daraus resultierenden Verwandtschaftsbeziehungen werden oft in einem Stammbaum dargestellt.

Tehrani versuchte nun als Erster die Entwicklung mündlicher Überlieferungen durch Phylogenie zu untersuchen. Er wählte dafür zwei der berühmtesten Märchen: Die Geschichte vom Rotkäppchen und dem Wolf und die sieben Geisslein. Beide kommen in vielfältigen Varianten vor, viele davon lassen sich jedoch anhand qualitativer Analyse nicht eindeutig einem Typ zuordnen. Da viele Erzählungen aus dem Raum Asiens Elemente beider Märchen aufweisen, vermutete man bis dahin, dass die Geschichte des Rotkäppchens ursprünglich aus China stamme. Tehrani wollte dieser Hypothese nun nochmals nachgehen und dem Ursprung dieser Geschichten systematisch auf den Grund gehen. Seine Analyse eröffnete nun eine neue überraschende Hypothese.

Mit Märchencharakteren lassen sich phylogenetische Beziehungen herstellen

Tehranis Datensatz bestand aus 58 Varianten dieser zwei Volkserzählungen, unterschiedlicher geographischer und kultureller Herkunft. 72 Erzählelemente, wie beispielsweise die Art und Anzahl der Opfer (Mensch, Tier, eines oder mehrere), die Gestalt des Bösewichts (Wolf, Tiger) etc., wurden verwendet, um die verschiedenen Varianten in drei phylogenetischen Algorithmen auf ihre Verwandtschaft zu prüfen.

Die Resultate der Analyse wurden dreifach bestätigt: Die Geschichte des Rotkäppchens entstand unabhängig voneinander, einmal in Europa und einmal in Afrika, aus der Geschichte des Wolfs und den sieben Geisslein.

Die europäischen Varianten des Rotkäppchens, etwa die berühmte Grimm Version aus dem 18. Jahrhundert oder deren Vorfahre von Perrault aus dem 17. Jahrhundert, gehen auf Varianten alter europäischer Volkserzählungen des 10. Jahrhundert zurück. Die afrikanischen Varianten des Rotkäppchens sind dagegen näher mit der Geschichte des Wolfs und der sieben Geisslein verwandt. Letztere kommt in afrikanischen als auch asiatischen Varianten vor und entstand vermutlich bereits im 1. Jahrhundert nach Christus. 1.000 Jahre später hat sich, gemäß Tehranis Analyse, aus dieser Geschichte die erste Form des Rotkäppchen Märchens in Europa entwickelt.

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Märchen werden weltweit in den verschiedensten Varianten erzählt. Hierzulande werden die meisten das

Märchen werden weltweit in den verschiedensten Varianten erzählt. Hierzulande werden die meisten das "Rotkäppchen" aus dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm kennen. (Diese Figur ist Teil des Märchenbrunnens im Berliner Volkspark Friedrichshain)

Bildquelle: © Manfred Brückels / wikimedia.org (CC BY-SA 3.0)

Rotkäppchen war Europäerin

Die asiatischen Varianten der beiden Märchen sind als „Die Tiger Grossmutter“ bekannt. Da in dieser Geschichte Elemente des Rotkäppchens als auch des Wolfs und der sieben Geisslein zu finden sind, vermutet man, dass sie eine spätere hybride Form der beiden Märchen darstellen. Sehr wahrscheinlich geht diese nicht auf die niedergeschriebene Version vom Rotkäppchen zurück, sondern auf ältere mündliche Überlieferungen. Die erste Dokumentation der „Tiger Grossmutter“ des chinesischen Dichters Zhing stammt nämlich bereits aus dem 17. Jahrhundert, aus derselben Zeit also als die europäische Form des Rotkäppchens erstmals von Perrault niedergeschrieben wurde.

Entgegen der gängigen Hypothese, dass das Rotkäppchen aus chinesischen Volkserzählungen entstanden sei, bezeugen Tehranis Ergebnisse nun genau das Umgekehrte: Die chinesischen Varianten entspringen den alten europäischen Volkserzählungen.

Für die Pflanzenforschung ist die Bedeutung phylogenetischer Methoden bereits seit langem bekannt. Für Wissenschaftler, die sich mit der Diversität und Systematik von Pflanzen oder Pflanzengemeinschaften auseinandersetzen, sind sie gar unverzichtbar. Auch auf molekularer Ebene können phylogenetische Analysen zu einem besseren Verständnis über die Funktion von Pflanzengenen oder Proteinen führen und auch wichtige Erkenntnisse zur Entwicklung von Pflanzen-Pilz oder Pflanzen-Insekten Interaktionen liefern.

Tehranis Rotkäppchen-Studie eröffnet nun vielversprechende Möglichkeiten: So könnte diese Methodik Traditionsforschern nun als hilfreiches Werkzeug dazu dienen, kulturelle Fragen wie beispielsweise die Entstehung von Sprachen, Dialekten oder religiöser Riten mit grösserer Genauigkeit als bisher zu untersuchen. Darüber hinaus ist diese ein im wahrsten Sinne des Wortes beredsames Beispiel dafür, wie sich wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden fächerübergreifend befruchten können.


Quelle:
Tehrani, JJ (2013): The Phylogeny of Little Red Riding Hood. In: PLoS ONE 8(11): e78871. doi:10.1371/journal.pone.0078871.

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Titelbild: Wo hat die Geschichte des Rotkäppchens seinen Ursprung? Ein Forscher hat dies nun systematisch untersucht. (Quelle: © iStockphoto.com/ MIMOHE)