Urban Gardening, das Gärtnern in der Stadt

Wie horizontal wachsende Pflanzen die Großstädte erobern sollen

13.01.2015 | von Redaktion Pflanzenforschung.de

So könnte eine neue, innovative Fassadenbegrünung in unseren Städten aussehen. Dabei wachsen Bäume waagerecht an der Hauswand. (Bildquelle: © GraviPlant (Tim Staudenmaier)

So könnte eine neue, innovative Fassadenbegrünung in unseren Städten aussehen. Dabei wachsen Bäume waagerecht an der Hauswand. (Bildquelle: © GraviPlant (Tim Staudenmaier)

Wer bei Fassadenbegrünung vor allem an rankenden Efeu denkt, liegt zukünftig falsch. Waagrecht wachsende, rotierende Bäume könnten schon bald Hochhauswände in Großstädten zieren und so die Luftqualität verbessern und das Ambiente für die Bewohner verändern.

Der menschliche Gleichgewichtssinn liegt im Innenohr. Dort drücken kleine Stärke- oder Kalkkörnchen, die sogenannte Ohrsteinchen (Statolithen), auf bestimmte Sensoren, die unser Gleichgewicht regulieren. Ist das Innenohr verletzt oder gestört, ist uns nahezu unerträglich schwindlig.

Dass Pflanzen auch schwindlig wird, glaubt Alina Schick nicht. Die Diplombiologin an der Universität Hohenheim bringt in ihren Versuchen die Schwerkraftwahrnehmung von Pflanzen durcheinander und lässt sie dadurch nicht mehr nach oben, sondern in die Waagrechte wachsen. Dazu richtet sie die Pflanzen horizontal aus uns lässt sie langsam immer um die eigene Achse drehen. „Durch die Drehung können die Pflanzen die Schwerkraft gar nicht mehr oder zumindest nicht mehr in gewohnter Weise wahrnehmen“, erklärt Alina Schick das Prinzip.

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Neue Lebensräume für Pflanzen: Nicht nur von unten nach oben, Pflanzen könnten zukünftig in unseren Häusern auch waagerecht von den Wänden wachsen, so die Vision der Diplombiologin Alina Schick.

Neue Lebensräume für Pflanzen: Nicht nur von unten nach oben, Pflanzen könnten zukünftig in unseren Häusern auch waagerecht von den Wänden wachsen, so die Vision der Diplombiologin Alina Schick.

Bildquelle: © GarviPlant

Fallende Stärkekörnchen lassen Schwerkraft wahrnehmen

Ähnlich wie beim Menschen sorgen auch bei Pflanzen Stärkekörnchen, die in speziellen Pflanzenzellen auf die Zellwand fallen, dafür, dass Pflanzen die Schwerkraft wahrnehmen und sich im Raum orientieren können. Natürlich spielt bei dieser Orientierung neben weiteren Faktoren auch das Licht eine wichtige Rolle. Normalerweise wachsen Pflanzen nach oben, dem Sonnenlicht entgegen.

Dreht Alina Schick ihre waagerecht ausgerichteten Pflanzen, lässt das nicht nur die Stärkekörnchen, die Statolithen, anders auf die Zellwände auftreffen. Bei einer schnellen Drehgeschwindigkeit fallen die Steine unendlich, wodurch die Pflanze ihre Wahrnehmung für oben und unten verliert. „Dreht die Pflanze langsam, bekommt sie das Signal, dass die Schwerkraft von allen Seiten kommt“, erklärt Alina Schick. Auch das Licht fällt dann von allen Seiten ein und bietet keinen Orientierungspunkt mehr für die Wuchsrichtung der Pflanze.

Standorttreue Pflanzen wollen nicht gedreht werden

Grundsätzlich funktionierte das Prinzip bei den meisten Pflanzen, die Alina Schick in den letzten fünf Jahren gedreht hat. „Bei Kirsch- und Apfelbäumen, Hibiskus, Gummibäumen, Amaryllis, Sonnenblumen und vielen anderen haben wir durch Drehen eine vertikale Wuchsrichtung erzeugen können“, erklärt Alina Schick. Doch es gibt auch Pflanzen, die auf Drehungen sehr empfindlich reagieren. „Der Weihnachtsstern beispielsweise hat als Reaktion auf unseren Versuch alle Blätter abgeworfen“, berichtet die Wissenschaftlerin. Auch Orchideen möchten offenbar nicht gedreht werden. Warum manche Pflanzen standorttreu sind und andere nicht, müssen weitere Versuche erst noch zeigen.

Neue Lebensräume erschließen

Mit ihren drehenden Töpfen, den sogenannten Klinostaten, will die Forscherin neue Lebensräume für die Pflanzen erschließen. „Pflanzen können auf der Erde unter extremen Bedingungen leben, wie beispielsweise in großen Höhen“, so Schick. In Schicks Vorstellungen sollen die waagerecht wachsenden Pflanzen einmal Hochhausfassaden oder auch Innenräume begrünen. Damit ließen sich die Lufttemperatur und –feuchtigkeit von Innenräumen, sowie die Luftqualität und die Feinstaubbelastung in Ballungsräumen verbessern. Architektonisch verleihen die vertikal wachsenden Bäume, Sträucher und Blumen jedem Gebäude zweifelsfrei das gewisse Etwas.

Holzig und kleinwüchsig müssen sie sein

Dass dabei große Bäume doch der Schwerkraft zum Opfer fallen und nach unten wegbrechen könnten, ist für Alina Schick kein Thema. „Die Bäume werden wahrscheinlich gar nicht so lange Stämme ausbilden“, erklärt sie. Darauf deuten ihre Versuche hin, in denen die gedrehten Pflanzen nicht so stark in die Länge wuchsen wie ihre senkrecht wachsenden Artgenossen. Verholzte Pflanzen mit nur einer Sproßachse eignen sich am besten für das Leben im Klinostaten. Die Blütenbildung bleibt von den dauernden Drehungen offenbar weitgehend unbeeinflusst, lediglich die Früchte eines Kirschbaumes, den Schick zunächst in einer Waschmaschinentrommel rotieren ließ, waren etwas kleiner als die seiner normal wachsenden Artgenossen. „Für eine ertragsorientierte Landwirtschaft eignet sich unser System weniger“, räumt die Forscherin ein.

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Urban gardening ist ein Trend in Großstädten. Hier zu sehen: Ein Gemüsegarten in Brooklyn, New York.

Urban gardening ist ein Trend in Großstädten. Hier zu sehen: Ein Gemüsegarten in Brooklyn, New York.

Bildquelle: © iStock.com/Lorraine Boogich

Altbekanntes System neu aufgerollt

Der Klinostat ist unter Pflanzenforschern schon ein alter Schuh, denn er wurde bereits vor über hundert Jahren von einem Biologen entwickelt. Seitdem haben sich verschiedene Wissenschaftler den Reaktionen von Pflanzen auf Klinostaten gewidmet. Dabei müssen vor allem der absolute Gleichlauf der Achse, die Bewässerung der horizontal wachsenden Pflanze, oder das Anti-Rieselsystem zur Vermeidung des Substratverlusts optimiert werden – ein teilweise kniffliges Unterfangen, dem sich Alina Schick in ihrem Unternehmen Graviplant widmet.

Investoren gesucht

Die Forscherin hat das Unternehmen gegründet, um Pflanzen neue Räume zu geben und das Bedürfnis vieler Großstädter nach mehr Grün zu befriedigen. Bisher wachsen die Pflanzen nur im Labor der Universität Hohenheim und im Garten der Forscherin und ihrer Mitentwickler. Gemeinsam mit Unternehmensberatern sucht sie nun nach Investoren für ihre innovative Begrünung – zunächst im asiatischen und arabischen Raum. „Die Menschen sind dort aufgeschlossener für Neues und leiden oft stark unter der versmogten Luft in Großstädten“, erklärt die Wissenschaftlerin.

Zuverlässige Bewässerung

Ein rotierender Baum inklusive Versorgungssystem wird etwa 3.500,- Euro kosten, hat aber einige Vorteile gegenüber der gängigen Fassadenbegrünung, bei der Pflanzen oft nur bis zu einer bestimmten Höhe wachsen. Neben des nahezu unbegrenzten Standortes an einer Hauswand leben die Pflanzen in Schicks Klinostaten auch länger. „In der konventionellen Fassadenbegrünung gehen viele Pflanzen schnell ein, weil sie unzureichend bewässert und gedüngt sind. Das ist bei diesem System nicht der Fall, da die Pflanzen einzeln ideal versorgt sind“, erklärt Alina Schlick den Vorteil ihres quasi geschlossenen Systems. Dieses besteht aus zwei Komponenten: Ein stets an der Wand verbleibender Teil beinhaltet die Elektronik des Klinostaten, ein weiterer aufsteckbarer Teil die Pflanze, die bei Bedarf einfach ausgetauscht werden kann. Durch die Rotation bleibt der Wuchs der Pflanzen gleichmäßiger, da diese sich nicht in Richtung Licht bewegen. Ein gleichmäßiges Grün ist für längere Zeit möglich.

Ob die drehenden Bäume bald die Metropolen der Welt erobern werden, bleibt abzuwarten. Bei zunehmender Urbanisierung und Luftbelastung der Großstädte wäre eine vertikale Begrünung ein tröstlicher Gedanke.


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Titelbild: So könnte eine neue, innovative Fassadenbegrünung in unseren Städten aussehen. Dabei wachsen Bäume waagerecht an der Hauswand. (Bildquelle: © GraviPlant (Tim Staudenmaier)