Beschluss der EU-Kommission

Neue Koexistenz-Leitlinien in der EU: Auch Anbauverbote sind nun erlaubt

Am 13. Juli 2010 hat die EU-Kommission neue Leitlinien zur Koexistenz beschlossen. Sie markieren eine Wende in der europäischen Gentechnik-Politik. Im Kern ist es den Mitgliedsstaaten nun überlassen, ihre Vorstellung von „Koexistenz“ durchzusetzen. Während bisher „gentechnik-freie“ Zonen nur auf der Basis freiwilliger Vereinbarungen möglich waren, können die Länder nun den Anbau bestimmter gentechnisch veränderter Pflanzen verbieten.

John Dalli, EU-Kommissar für Gesundheit und Verbraucherpolitik

John Dalli, EU-Kommissar für Gesundheit und Verbraucherschutz: „Die Mitgliedsstaaten brauchen mehr Flexibilität, um Koexistenz regeln zu können.“

Die neuen Koexistenz-Leitlinien sind ab sofort gültig. Sie richten sich an die Mitgliedsstaaten, haben aber nur empfehlenden Charakter. Es ist ihnen künftig weitgehend freigestellt, wie sie den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen regeln. Sie können auf nationale Koexistenz-Vorschriften verzichten, sie können aber auch „gentechnik-freie“ Zonen vorschreiben.

Wirtschaftlicher Schaden. Zweck von Koexistenz-Maßnahmen ist die Vermeidung wirtschaftlicher Schäden durch ungewollte GVO-Einträge. Bisher war ein solcher Schaden über den Schwellenwert definiert: Einträge (zugelassener) GVO bis zu 0,9 Prozent galten als tolerierbar. Nun kann grundsätzlich jeder GVO-Eintrag als wirtschaftlicher Schaden angesehen werden.

Die EU-Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen durch geeignete Vorschriften so zu regeln, dass verschiedene landwirtschaftliche Systeme mit und ohne Gentechnik auf Dauer nebeneinander bestehen können. Die neuen, am 13. Juli von der EU-Kommission beschlossenene Leitlinien zur Koexistenz unterscheiden sich von den bisherigen Empfehlungen aus dem Jahr 2003 deutlich.

Bisher sollten die von den Mitgliedsstaaten vorgeschriebenen Maßnahmen „angemessen“ sein, um „zufällige, technisch unvermeidbare“ GVO-Einträge in konventionelle Bestände unter dem EU-weit geltenden Kennzeichnungs‑Schwellenwert von 0,9 Prozent zu halten. Künftig können nationale Anbauvorschriften auch so ausgelegt werden, weitaus geringere GVO-Einträge zu vermeiden.

Die Erfahrungen der letzten Jahre hätten gezeigt, so die Kommission, dass wirtschaftliche Schäden durch GVO-Einträge in herkömmlichen Anbausystemen nicht nur bei Überschreitung des Kennzeichnungsschwellenwertes von 0,9 Prozent eingetreten seien. In einigen Märkten entstünden für die Produzenten hohe Kosten bei der Trennung von GVO- und nicht-GVO-Produkten. Auch die Einführung von unterschiedlichen Standards für „GVO-frei“-Kennzeichnungen in einigen Mitgliedsstaaten führte zum Entschluss der Kommission, die nationalen Spielräume flexibler zu gestalten. Damit kehrt die EU-Kommission vom Grundgedanken der bisherigen Leitlinien ab, dass Koexistenzmaßnahmen ausschließlich der Einhaltung des GVO-Kennzeichnungs-Schwellenwertes dienen sollen.

Die Leitlinien sehen in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeit zur Ausweisung von „GVO-freien“-Flächen vor. Damit wird den Mitgliedsstaaten de facto eingeräumt, den Anbau von gv-Pflanzen regional und auch großflächig auf ihrem Hoheitsgebiet zu verbieten. Bisher waren solche „gentechnik-freien“ Zonen nur auf Basis freiwilliger Vereinbarungen möglich. Rechtlich bindende Anbauverbote hatte der Europäische Gerichtshof wiederholt für unzulässig erklärt.

Die neuen Leitlinien im Überblick:

  • Nationale Koexistenzmaßnahmen sollen in Zusammenarbeit mit allen betroffenen Verbänden und Gruppierungen erarbeitet werden.

  • Die Maßnahmen sollen „angemessen“ sein, um unnötige Behinderungen von bestimmten Produktionssystemen zu vermeiden.

  • Die Begrenzung der Vermischung von GVO- und nicht-GVO-Produkten soll nach den Markterfordernissen ausgerichtet werden. Je nach Land und Region sowie den vorhandenen Märkten können Maßnahmen zur Einhaltung des Kennzeichnungsschwellenwertes von 0,9 Prozent oder darunter getroffen werden. Wenn keine ökonomischen Schäden zu erwarten sind, sollen auch keine Restriktionen beim Anbau eingeführt werden.

  • Die getroffenen Maßnahmen sollen regionale und lokale Besonderheiten berücksichtigen, zum Beispiel die Größe und geographische Verteilung der Felder, Fruchtfolgewechsel, natürliche Faktoren mit Einfluss auf die Pollenverbreitung wie Topographie und Klima.

  • Die Mitgliedsstaaten können den Anbau von gv-Pflanzen großflächig verbieten, wenn andere Maßnahmen zum Schutz der konventionellen bzw. ökologischen Landwirtschaft ungeeignet sind.

Änderung der Koexistenzleitlinien nur der erste Schritt

Die neuen Koexistenz-Leitlinien sind nur ein erstes Instrument des im letzten Jahr angekündigten Wechsels in der europäischen Gentechnik-Politik. Damit nach Meinung der Kommission mehr Rechtssicherheit für nationale Anbauverbote besteht, soll auch die EU-Freisetzungsverordnung geändert werden. Danach wird es generell möglich sein, aus anderen Gründen als Gesundheits- und Umweltrisiken über den Anbau einer in der EU zugelassenen gv-Pflanze national zu entscheiden. Bisher können Anbauverbote in den Mitgliedsstaaten nur mit Berufung auf die sogenannte Schutzklausel der Freisetzungsverordnung begründet werden. Das zentralisierte EU-Zulassungssystem basierend auf der wissenschaftlichen Bewertung von Gesundheits- und Umweltrisiken durch die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde (ESFA) soll jedoch beibehalten werden. Auch der Import von in der EU zugelassenen GVO-Produkten soll nicht national verboten werden können.

Das Europäische Parlament und der Rat müssen der Änderung des EU-Rechts noch zustimmen. Damit wird nicht innerhalb der nächsten zwei Jahre gerechnet.

Nationale Koexistenzmaßnahmen

Fünfzehn EU-Länder haben nach einem im April 2009 von der Kommission veröffentlichten Bericht nationale Koexistenzvorschriften erlassen. Diese basieren noch auf den alten im Jahr 2003 veröffentlichten Leitlinien der EU-Kommission, wonach durch Koexistenzmaßnahmen der GVO-Eintrag in nicht-GVO-Anbausystemen auf maximal 0,9 Prozent begrenzt werden sollte. Nach Veröffentlichung der neuen EU-Leitlinien zur Koexistenz kann davon ausgegangen werden, dass die Mitgliedsländer die nationalen Koexistenzmaßnahmen überdenken werden.

Die bestehenden nationalen Koexistenzmaßnahmen unterscheiden sich von Land zu Land teilweise sehr stark. Regionale Unterschiede in der Landwirtschaft wie z.B. die Größe der Felder oder klimatische Bedingungen werden als Grund angeführt. In den sechs Mitgliedsstaaten Deutschland, Tschechien, Irland, Niederlande, Portugal und Slowakei gelten für die Trennung von GVO-Feldern und Feldern mit ökologischem Anbau striktere Maßnahmen als für die Trennung von GVO-Feldern und konventionellen Feldern. Einige Mitgliedsstaaten schreiben für den Anbau von gv-Pflanzen in der Nähe von Naturschutzgebieten (z.B. Natura 2000-Gebieten) besondere Verfahren vor oder untersagen diese. Da diese Sonderreglungen nicht mit der Koexistenz in Zusammenhang stehen, sah die EU-Kommission die Rechtslage noch als ungeklärt.

Die EU-Kommission hat 2008 das „Europäisches Büro für Koexistenz“ eingerichtet, das die Wirksamkeit technischer Koexistenzmaßnahmen weiter verbessern soll. In Zusammenarbeit mit den Mitgliedsstaaten und beteiligten Interessensgruppen sollen Empfehlungen für kulturartenspezifische Trennungsmaßnahmen erarbeitet werden.