Der schlafende Riese der Pflanzenzüchtung

06.05.2010 | von Redaktion Pflanzenforschung.de

99,5 Prozent der genetischen Vielfalt der Pflanzen dieser Welt hat der Mensch noch nicht erschlossen. (Quelle: © iStockphoto.com/ Dušan Zidar)

99,5 Prozent der genetischen Vielfalt der Pflanzen dieser Welt hat der Mensch noch nicht erschlossen. (Quelle: © iStockphoto.com/ Dušan Zidar)

99,5 Prozent der genetischen Vielfalt der Pflanzen dieser Welt hat der Mensch noch nicht erschlossen. Darin verborgen ruht enormes Potenzial für die Züchtungsforschung, aber auch für die pharmazeutische Industrie. Doch diese Ressourcen zu erschließen und zu erhalten, ist aufwändig.

Rund 400.000 Pflanzenarten sind weltweit bekannt. 20.000 davon nutzen die Menschen, 2.000 bauen sie aktiv an. Zieht man die rund 1.500 Zierpflanzen ab und schaut nur auf Mitteleuropa, bleiben etwa 200 Arten übrig, die bei uns der Ernährung, der Gesundheit oder als industrieller Rohstoff dienen.

Diese wenigen Arten haben Züchter meist über Jahrzehnte auf hohe Erträge unter den bei uns üblichen Umweltbedingungen optimiert. Doch diese Bedingungen ändern sich. Mit dem Klimawandel wird es wärmer und trockener, und damit einher erreichen auch neue Schädlinge die Felder Mitteleuropas; Schädlinge, gegen die unsere Hochleistungssorten nicht resistent sind.

Oftmals gab es diese Resistenz gegen Schädlinge oder die Toleranz gegen Dürre in der Vergangenheit einer Art oder zumindest der Gattung einst. Sie ging über die Jahrzehnte der Weiterzüchtung verloren, weil sie damals keine Bedeutung hatte. Hätte man den Samen der damaligen Pflanzen erhalten, könnten Züchter deren Eigenschaften heute in relativer kurzer Zeit in die Hochleistungssorten einkreuzen. Anderenfalls begänne eine langwierige Suche nach Pflanzen mit den gewünschten Eigenschaften – und bliebe diese erfolglos, müsste die Hochleistungssorte womöglich aufgegeben werden.

Genbanken erhalten die bekannte Vielfalt

Genbanken rund um den Globus haben es sich deshalb zum Ziel gemacht, möglichst viele Arten in möglichst vielen Variationen dauerhaft zu erhalten. 2007 entstand beispielsweise die Deutsche Genbank Obst, ein Netzwerk verschiedener Institutionen, die sich bislang der Erdbeere, der Kirsche und – seit 2009 – auch dem Apfel widmen. So hat die Genbank Apfel des Julius-Kühn-Instituts in Dresden-Pillnitz rund 860 Apfelsorten und 365 Abstammungen von Wildäpfeln gesammelt. Gemessen an den 20.000 weltweit bekannten Apfelsorten klingt das wenig, doch in unserem Alltag spielen höchsten 20 Sorten eine Rolle.

Die weltweit zweitgrößte Genbank nach der des russischen Wawilow-Instituts in Sankt Petersburg betreibt das Leibniz-Institut in Gatersleben. 150.000 Muster von 3.000 Arten aus mehr als 750 botanischen Gattungen sind dort versammelt. Doch eine Genbank leistet viel mehr als Saatgut zu konservieren. Die Aufgabe einer Genbank ist es, die gesammelten pflanzengenetischen Ressourcen zu dokumentieren, zu erhalten und bereitzustellen. Nur dann können Forscher die gespeicherten speziellen Genvarianten analysieren und Züchter sie schließlich nutzen, um verbesserte Sorten zu erzeugen.

Da Samen sich nicht endlos lagern lassen, muss eine Genbank in längeren Abständen – etwa alle 20 Jahre – die Pflanze anbauen und frische Samen ernten. Allein in Gatersleben bedeutet das, dass jährlich 7.500 Muster aufgefrischt werden müssen. Damit dabei kein Saatgut mit anderen Samen verunreinigt wird, müssen die Wissenschaftler einige Maßnahmen treffen: Bei Selbstbefruchtern wie Weizen und Gerste genügt ein abwechselnder Abbau; bereits ein Abstand von 1,25 Metern zwischen zwei Weizenmustern verhindert ungewollte Fremdbefruchtungen. Fremdbefruchtende Arten wie Roggen wachsen in Isolierparzellen, die zueinander mindestens 250 Meter Abstand haben, damit keine Verunreinigung durch den Wind erfolgen kann. Insektenbestäubende Fremdbefruchter pflanzen die Wissenschaftler sogar nur in insektendichten Kleingewächshäusern.

Während die meisten Genbanken neben dem Erhalt auch der Forschung dienen, plant der UN-nahe Welttreuhandfonds für Kulturpflanzenvielfalt auf Spitzbergen das größte und sicherste Lager für Samen und Pflanzgut von Nutzpflanzen mit einem einzigen Ziel: Saatgut aus aller Welt soll tief unter permanent gefrorenem Fels Naturkatastrophen, Epidemien und sogar einen Atomkrieg überdauern können. Allerdings ist fraglich, ob gerade tropische Samen eine derartige Lagerung überstehen – und selbst wenn, muss auch dieses Saatgut periodisch erneuert werden.

Unbekannte Vielfalt automatisiert erschließen

Allein die in Genbanken gelagerte genetische Vielfalt zu analysieren, dürfte noch viele Jahre dauern. Dabei befindet sich eine zigfach größere Vielfalt mit nahezu unendlichem züchterischem, aber auch medizinischem Potenzial draußen in der Natur. Noch Ende des letzten Jahrhunderts erschien es aussichtslos, diesen natürlichen Reichtum auch nur ansatzweise zu erfassen und zu analysieren. Doch dank technischer Fortschritte sind neue Methoden entstanden, die diese Prozesse erheblich beschleunigen, allen voran die nicht-invasive Hochdurchsatzphänotypisierung.

Hochdurchsatzmethoden kennen die Biowissenschaften in verschiedenen Bereichen. Gemein ist ihnen allen, dass automatisiert eine große Probenanzahl auf bestimmte Merkmale untersucht werden kann. Bei der nicht-invasiven Phänotypisierung von Pflanzen geschieht dies, indem Kameras die Pflanze in ihrer räumlichen Struktur und in unterschiedlichen Wellenlängenbereichen digital erfassen. Ein Computerprogramm vergleicht die aufgenommenen Bilder mit Erkennungsmustern. Beispielsweise kann ein Programm verschiedene Arten anhand von Blattform, Wuchs und Blütenfarbe unterscheiden, kann aber auch beurteilen, welche Pflanzen besonders gut gewachsen sind oder welche Krankheitssymptome zeigen.

Für komplette Gewächshäuser dokumentiert ein solches System vollautomatisch jeden Tag das Wachstum und die Leistung der darin enthaltenen Pflanzen. So entsteht eine Charakterisierung des Phenoms der Pflanzen, der Gesamtheit ihrer Eigenschaften in einer bestimmten Umwelt. Züchter können dadurch viel versprechende Pflanzen effizient identifizieren – bislang war das der Flaschenhals der Pflanzenforschung.

Für die Medizin ist weniger die Pflanze selbst von Interesse als ihre Inhaltsstoffe. Insbesondere bei Pflanzen, die traditionell für ihre heilende – oder auch giftige – Wirkung bekannt sind, suchen Pharmaunternehmen nach der Quelle dieser Wirkung. Gelingt es, den ursächlichen Inhaltsstoff zu bestimmen, kann er gezielt aus den Pflanzen gewonnen oder – eventuell in verbesserter Form – künstlich hergestellt und als Medikament vermarktet werden. Ein frühes Beispiel dafür ist die Rinde des Weidenbaums, die schon im antiken Griechenland gegen Fieber und Schmerzen eingesetzt wurde. Sie beinhaltet Acetylsalicylsäure – die Hauptkomponente des Schmerzmittels Aspirin.

Rio 1992: Globale Strategie zum Schutz der Pflanzen

Die Bedeutung der biologischen Vielfalt erkannte die Politik in den 1970er Jahren. Weder das Ramsar-Übereinkommen über Feuchtgebiete (1971), das Washingtoner Artenschutzabkommen (1973) noch die Konvention zum Schutz wandernder wilder Tierarten (1979) konnten jedoch verhindern, dass die Artenvielfalt der Erde weiter abnahm.

Auf der UN-Umweltkonferenz in Rio de Janeiro folgte daher 1992 das Übereinkommen über die biologische Vielfalt, dem bis heute 191 Staaten beigetreten sind. Neben der Erhaltung der Artenvielfalt hat das Übereinkommen zum Ziel, die Vielfalt innerhalb der Arten zu schützen. Sie gibt Regeln vor, wie Länder ihre biologischen Ressourcen nachhaltig nutzen und bewahren können; beispielsweise, indem sie Genbanken errichten. Das Übereinkommen widmet sich aber auch der Frage nach dem Wert der biologischen Vielfalt. So muss ein Unternehmen, dass Gewinn aus biologischen Ressourcen eines Entwicklungslandes erzielt, diesem Land dafür Ausgleichszahlungen leisten.

Teil dieser Konvention von Rio ist die Globale Strategie zum Schutz der Pflanzen. Darin definiert sind fünf Hauptziele, die bis 2010 umgesetzt sein sollen:

    - Erfassung und Dokumentation der Pflanzenvielfalt
    - spezifische Erhaltungsziele zum Schutz der Pflanzen
    - nachhaltige Nutzung
    - Förderung von Bildung und Bewusstsein über die Pflanzenvielfalt
    - Schaffung fachlicher Kapazitäten zur Erhaltung der Pflanzenvielfalt

Obwohl die Konvention von Rio seit 1993 in Kraft und ihre Umsetzung völkerrechtlich bindend ist, haben viele Staaten sie noch nicht in nationale Vorgaben überführt. Deutschland verabschiedete 2007 eine Biodiversitätsstrategie.

Uneinigkeit über den Wert der Entwicklungsleistung

Moderne Verfahren erlauben es, die immense biologische Vielfalt effizienter nutzbar zu machen, als es noch vor wenigen Jahren der Fall war. Dennoch wird auch heute jeder Fortschritt mit viel Zeit und Geld erkauft. Unternehmen, die diese Forschung erbringen und so beispielsweise verbesserte Pflanzensorten entwickeln, möchten über den Verkauf des Saatguts die Entwicklungskosten decken und schließlich Gewinne machen. Könnte jeder Landwirt nach einmaligem Kauf einen Teil seiner Ernte als Saatgut für die nächste Saison nutzen, ginge diese Rechnung nicht auf. Unterscheidet sich eine neue Sorte klar von den bislang existierenden, kann ein Züchter daher beim Bundessortenamt Sortenschutz beantragen. Wird dieser erteilt, darf für 25 oder 30 Jahre nur der Züchter diese Sorte gewerblich vermehren. Da es sich beim Sortenschutz geistiges Eigentum auf einen biologischen Organismus handelt, erzeugt das Thema immer wieder ethische Debatten.

Strittiger als der Sortenschutz sind Patente auf biologische Organismen. In den letzten Jahren haben mehrere Unternehmen die DNS-Sequenz von tierischen oder pflanzlichen Genen bestimmt, weil deren Produkte wirtschaftlich interessant sind – beispielsweise für großes Wachstum. So sorgte 2008 ein Patent des US-Konzern "Newsham Choice Genetics" für Aufruhr. Der Konzern nutzt ein Gen als Marker, um geeignete Zuchtschweine auszuwählen. Wer diese Selektionsmethode nutzen möchte, muss dafür Lizenzgebühren zahlen. Dieses Gen ist jedoch in vielen Schweinen vorhanden. Weil nachträglich nicht zu erkennen ist, auf welche Weise die Schweine selektiert wurden, fürchten Landwirte, der Konzern könne sie jederzeit für Tiere zur Kasse bitten, die sie seit Generationen selber züchten.

Die Debatte um Sortenschutz und Patente auf Lebewesen reißt daher nicht ab. Doch egal wie man zum Thema steht, bleibt ein Problem bestehen: Die wachsende Weltbevölkerung und die sich wandelnden Umweltbedingungen verlangen nach einer immer leistungsfähigeren Landwirtschaft. Die Entwicklung neuer Sorten auf Grundlage der biologischen Vielfalt leistet dazu einen wichtigen Beitrag – und der muss irgendwie finanziert werden.