Eine „doppelte“ oder sogar „dreifache Bürde“

Ein Mehr an Kalorien schützt vor Unterernährung, kann aber auch krank machen

05.08.2016 | von Redaktion Pflanzenforschung.de

Eine Ernährung, die stark auf Lebensmitteln wie Weizen, Reis oder Soja basiert, stellt bei Kindern zwar Wachstum sicher, bei Erwachsenen aber kann eine solche Ernährung Übergewicht verursachen. (Quelle: © Aboikis/fotolia.com)

Eine Ernährung, die stark auf Lebensmitteln wie Weizen, Reis oder Soja basiert, stellt bei Kindern zwar Wachstum sicher, bei Erwachsenen aber kann eine solche Ernährung Übergewicht verursachen. (Quelle: © Aboikis/fotolia.com)

Die Zahl der hungernden bzw. untergewichtigen Menschen geht aufgrund einer erhöhten Kalorienzufuhr zurück. Krankheiten wie die Kleinwüchsigkeit bei Kindern nehmen ab. Gleichzeitig steigt die Gefahr für Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen an. Die genauen Zusammenhänge von Nahrungsenergieverfügbarkeit, Nahrungsqualität und ernährungsbedingten gesundheitlichen Folgen blieben lange im Dunkeln. Nun haben Forscher erstmals weltweit die Beziehung der verschiedenen Faktoren genau berechnet.  

Die moderne Landwirtschaft mit ihren steigenden Getreideerträgen hat es bisher größtenteils geschafft, mit der wachsenden Weltbevölkerung schrittzuhalten und diese ausreichend zu ernähren. Folglich ging die Zahl der hungernden beziehungsweise untergewichtigen Menschen seit 1990 um 216 Millionen zurück. Ebenso verringerte sich die Zahl der mit Unterernährung verbundenen Krankheiten wie die Kleinwüchsigkeit bei Kindern kontinuierlich.

Doppelte Herausforderung für Entwicklungs- und Schwellenländer

#####1#####
Der kultivierte Mais enthält nur drei Milligramm Eisen pro 100 Gramm. Im Vergleich: Eine traditionelle Kulturpflanze wie Quinoa hat einen Eisengehalt von acht Milligramm.

Der kultivierte Mais enthält nur drei Milligramm Eisen pro 100 Gramm. Im Vergleich: Eine traditionelle Kulturpflanze wie Quinoa hat einen Eisengehalt von acht Milligramm.

Bildquelle: © smereka / Fotolia.com

Allerdings kann die einseitige Fokussierung einiger Staaten auf die Ertragssteigerung von Grundnahrungsmitteln wie Getreide zum sogenannten „Double Burden", also zur Doppelbelastung von Unterernährung und Übergewicht in der gleichen Gesellschaft oder sogar in der gleichen Familie führen. Der Grund: Eine Ernährung, die stark auf Lebensmittel wie Weizen (Triticum aestivum), Reis (Oryza sativa) oder Soja (Glycine max) basiert, stellt bei Kindern zwar Wachstum sicher, bei Erwachsenen aber kann eine solche Ernährung Übergewicht verursachen. Besonders in Entwicklungs- oder Schwellenländern tritt dieser „Double Burden" verstärkt auf: China beispielsweise ist sowohl weltweit Spitzenreiter beim Übergewicht und beim Untergewicht auf dem zweiten Platz. Übergewicht, Diabetes, Herzinfarkte und Schlaganfälle nehmen in solchen Ländern zu.

„Versteckter Hunger“ als weitere Belastung

Oft geht mit der doppelten Belastung durch Übergewicht und Unterernährung auch noch die Belastung durch den Mangel an Nährstoffen, wie z. B. Eisen einher. Ist dies der Fall sprechen Wissenschaftler mittlerweile vom „Triple Burden". Der Grund für die weitere Belastung liegt auf der Hand: Während eine traditionelle Kulturpflanze wie Quinoa einen Eisengehalt von acht Milligramm pro 100 Gramm hat, enthält der in den letzten Jahren stärker kultivierte Mais (Zea mays) nur drei Milligramm. Vielerorten verdrängt der Maisanbau klassische Kulturen wie Quinoa in Südamerika oder Hirse in Afrika.

Das eine weniger ausgeglichene und nährstoffärmere Ernährung dramatische Auswirkungen für die Gesundheit und Entwicklung haben kann, ist erwiesen. So kann z. B. ein Mangel an Eisen in der frühen Kindheitsentwicklung zu einer verzögerten Gehirnentwicklung führen, was Einfluss auf die kognitive Entwicklung hat und Lernprobleme nach sich zieht. Dieses als „versteckter Hunger“ bezeichnete Phänomen beeinflusst - weil rein kalorisch kein Mangel existiert, jedoch einer an Mikronährstoffen und Vitaminen - das Leben betroffener Menschen dauerhaft.

Für Länder wie Indien, in denen Eisenmangel weit verbreitet ist, wird der Mangel an Nährstoffen, genau wie Unter- oder Übergewicht, zu einer ernsten Bedrohung der Wirtschaft. Denn ein Erwachsener, der als Kind an Mangelernährung litt, verdient im Schnitt 20 Prozent weniger als einer, der gut versorgt war. Die Anreicherung von Nahrungsmitteln mit Nährstoffen, der sogenannten Fortifizierung, ist ein Ansatz, der schnell Wirkung zeigt, jedoch traditionelle, heimische Produkte noch stärker verdrängt. Ein weiterer Ansatz ist die Biofortifikation, bei der durch klassische Züchtungsmethoden oder mit Gentechnik der Nährstoffgehalt von Nahrungsmitteln erhöht wird.

#####2#####
Ein Ansatz wie der Mangel an Nährstoffen bekämpft werden kann, ist die Biofortifikation. Ein Beispiel hierfür ist der "Golden Rice", eine Reissorte mit erhöhtem Beta-Carotin-Gehalt.

 

Ein Ansatz wie der Mangel an Nährstoffen bekämpft werden kann, ist die Biofortifikation. Ein Beispiel hierfür ist der "Golden Rice", eine Reissorte mit erhöhtem Beta-Carotin-Gehalt.

 

Bildquelle: © IRRI / wikimedia.org; CC BY-NC-SA 2.0

Beziehung von Lebensmittel und Gesundheit

Ein internationales Forscherteam untersuchte jetzt, in einer im Fachjournal British Medical Journal vorgestellten Studie, erstmals weltweit die Beziehung der Nahrungsenergieverfügbarkeit, der Nahrungsqualität und die ernährungsbedingten gesundheitlichen Folgen. Die Forscher nutzten für ihre Arbeit Daten aus 124 Ländern, die von 1980 bis 2009 erhoben wurden. Sie griffen auf Zahlen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation bei den Vereinten Nationen (FAO), der Weltgesundheitsorganisation und der Weltbank zurück.

Große regionale Unterschiede

Die Forscher entdeckten bei ihrer Analyse, dass weltweit in der Zeit von 1980 bis 2009 die Nahrungsenergieverfügbarkeit stieg. Besonders stark erhöhte sie sich in den Vereinigten Staaten und Kanada. Die stärkste Abnahme gab es in Osteuropa und Zentralasien, was die Forscher mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklären. Entsprechend zum weltweiten Anstieg der Verfügbarkeit von Nahrungsenergie sank die Zahl Kleinwüchsiger stetig. Auch die Sterberate durch Herzkrankheiten sank, allerdings langsamer. Der genaue Blick zeigt deutliche Unterschiede der einzelnen Regionen untereinander. So stieg in den Regionen südlich der Sahara in Afrika und in Südasien die Sterberate durch Herzkrankheiten deutlich an, während sie in den Vereinigten Staaten zurückging.

Bezüglich des Zusammenhangs von Nahrungsenergieverfügbarkeit und der Gesundheit errechneten die Forscher, dass 100 Kilokalorien pro Tag mehr, z. B. durch circa 30 Gramm Naturreis, die Gefahr der Kleinwüchsigkeit von Kindern um 0,84 Prozent verringert. Gleichzeitig konnten die Forscher dieselbe Menge an Kilokalorien mit einem leichten, jedoch nicht signifikanten, Anstieg des Risikos an einer Herzkrankheit zu leiden in Verbindung bringen. Die Studie verdeutlicht, dass es alleine mit einer Erhöhung der Kalorienzahl alleine nicht getan ist.

Wichtige Stellschrauben

Übergewicht wird noch stärker als heute zum globalen Problem, wenn nicht wichtige Stellschrauben verändert werden. Neben einer ausreichenden rückt eine ausgeglichene und qualitativ hochwertige Ernährung in den Fokus von Entwicklungs- und Gesundheitsexperten. Dass diese sich im Laufe eines Lebens und je nach individueller Veranlagung und Lebenslage verändert, macht es nicht einfacher. Aufklärung auf der einen und das Unterbreiten von bezahlbaren Ernährungsangeboten, die auf eine Region und das Alter angepasst sind auf der anderen Seite, aber auch die Sicherung der Produktion bleiben die wichtigen Elemente der Ernährungspolitik.

Außerdem ist es für eine nachhaltige Entwicklung der Ernährungssituation wichtig, die Biodiversität zu schützen, da die biologische Vielfalt für Wissenschaftler und Züchter eine Art natürliche Versicherung gegen große Ernteverluste durch Pflanzenkrankheiten oder Wetterextreme sind. So kann verhindert werden, dass der Schwund an Biodiversität als „vierte Bürde" für die Schwellen- und Entwicklungsländer wirkt.


Quellen:

  • Green, R. et al. (2016): Global dietary quality, undernutrition and non-communicable disease: a longitudinal modelling study. In: BMJ Open 2016;6:e009331, doi: 10.1136/bmjopen-2015-009331.
  • NCD Risk Factor Collaboration (NCD-RisC) (2016): Trends in adult body-mass index in 200 countries from 1975 to 2014: a pooled analysis of 1698 population-basedmeasurement studies with 19·2 million participants. In: Lancet 2016; 387: 1377-96), doi: 10.1016/S0140-6736(16)30054-X.

Zum Weiterlesen:

Titelbild: Eine Ernährung, die stark auf Lebensmitteln wie Weizen, Reis oder Soja basiert, stellt bei Kindern zwar Wachstum sicher, bei Erwachsenen aber kann eine solche Ernährung Übergewicht verursachen. (Quelle: © Aboikis/fotolia.com)