Jekyll-Gen mit zwei Gesichtern

Außergewöhnliche Allele eines Gersten-Gens

28.06.2019 | von Redaktion Pflanzenforschung.de

Gerste verfügt über das Jekyll-Gen, das ungewöhnliche Allele aufweist. (Bildequelle: © Hans Braxmeier/Pixabay/CC0)

Gerste verfügt über das Jekyll-Gen, das ungewöhnliche Allele aufweist. (Bildequelle: © Hans Braxmeier/Pixabay/CC0)

Die Gerstenproteine Jek1 und Jek3 unterscheiden sich stark in ihrer Aminosäuresequenz und haben dennoch die gleiche Funktion. Tatsächlich liegen beiden Proteinen wohl zwei außergewöhnlich verschiedene Allele desselben Gens zugrunde, die nie gemeinsam im selben Individuum auftreten. Das hat Konsequenzen für Datenbanksuchen nach homologen Genen.

Es kommt nicht selten vor, dass Wissenschaftler bei der Namensfindung für Gene und Proteine kreativ werden. Auch das Jekyll-Gen ist so ein Fall. Es erhielt seine Bezeichnung 2006 in Anlehnung an Dr. Jekyll und Mr. Hide, zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten der an dissoziativer Identitätsstörung leidenden Hauptfigur einer Novelle von Robert Louis Stevenson. Denn auch das Jekyll-Gen besitzt zwei sehr unterschiedliche Facetten. Wie richtig die Forscher damals mit der Namensgebung lagen, haben jetzt weitere Studien mit diesem Gen gezeigt: Es existiert in zwei extrem unterschiedlichen Allelen – von denen nie beide gleichzeitig in einem Individuum auftreten.

Jekyll tötet, damit das Endosperm lebt

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Aktivität des Jekyll-Promoters visualisiert: Das grün fluoreszierende Protein (GFP) wird als zellulärer Marker eingesetzt, um andere Proteine sichtbar zu machen.

Aktivität des Jekyll-Promoters visualisiert: Das grün fluoreszierende Protein (GFP) wird als zellulärer Marker eingesetzt, um andere Proteine sichtbar zu machen.

Bildquelle: © Stefan Ortleb & Twan Rutten

2006 beschrieben Forscher des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) Gatersleben erstmals das Jekyll-Gen in Gerste (Hordeum vulgare), das eine essenzielle Rolle für die Fruchtbarkeit und geschlechtliche Vermehrung der Pflanze spielt. Gleichzeitig ähnelt das von ihm kodierte Protein einem Toxin des Skorpions, das mit dem programmierten Zelltod zusammenhängt. Vermutlich sorgt Jekyll dafür, dass die nucellare Projektion, ein verdickter Bereich der Samenanlage, zum richtigen Zeitpunkt abgebaut wird und dadurch Nährstoffe für das wachsende Endosperm bereitgestellt werden.

Es war ein Zufall, der Jahre später das zweite Gesicht des Gens an den Tag bringen sollte: Die Forscher wollten ein Fragment des Gens amplifizieren, doch die PCR schlug immer wieder fehl. Anders als 2006 hatte das Team nicht auf den Gerstenkultivar Barke, sondern auf Morex zurückgegriffen. Verwendeten die Forscher wieder Barke, arbeitete die PCR einwandfrei. Weitere Analysen zeigten, dass auch andere Akzessionen nicht über die Jekyll-Sequenz zu verfügen scheinen. Die Fruchtbarkeit war davon jedoch nicht beeinträchtigt.

Drei ähnliche Sequenzen

Datenbankanalysen und umfangreiche molekularbiologische Untersuchungen ergaben schließlich, dass Jekyll womöglich in zwei Allelen existiert: das bereit bekannte Allel Jek1 und zusätzlich Jek3. Außerdem fanden die Pflanzenforscher eine weitere Jek1 ähnliche Sequenz, die sie Jek2 nannten. Was für sich genommen noch nicht besonders spannend klingt, erwies sich jedoch mit jeder weiteren Untersuchung als außergewöhnlicher.

Bei PCR-Analysen von zwölf morphologisch sehr unterschiedlichen Gerstenkultivaren fand sich immer entweder Jek1 oder Jek3, aber nie existierten beide Allele gleichzeitig in einem Individuum. Jek2 hingegen fand sich in jeder untersuchten Akzession. Insgesamt analysierten die Forscher 485 wilde und domestizierte Gerstenakzessionen und stellten dabei fest, dass Jek1 und Jek3 in etwa gleichhäufig auftreten. Ein Selektionsdruck in die eine oder andere Richtung war nicht zu erkennen.

Große Unterschiede und große Gemeinsamkeiten

Zwischen den drei Jekyll-Sequenzen bestehen allerdings große Unterschiede: Jek1 und Jek3 haben eine zu rund 77 Prozent identische Nukleotidsequenz, Jek1 und Jek2 ähneln sich zu rund 69 Prozent und Jek2 und Jek3 zu etwa 65 Prozent. Noch deutlicher wird der Unterschied bei den daraus abgeleiteten Aminosäuresequenzen: Während Jek1 und Jek3 hier noch zu etwa 51 Prozent übereinstimmen, liegt die Ähnlichkeit zwischen Jek2 und Jek3 nur bei 27 Prozent und zwischen Jek1 und Jek2 bei lediglich 26 Prozent. In öffentlichen Datenbanken fanden die Pflanzenforscher weder zur cDNA noch zur Proteinsequenz Einträge, die Jek1, Jek2 oder Jek3 ähneln.

Umso überraschender waren die dennoch vorhandenen Gemeinsamkeiten: Alle drei Proteine haben das gleiche mutmaßliche Signalpeptid an ihrem N-Terminus und sechs konservierte Cysteinrückstände an zentraler Position. Jek1 und Jek3 weisen zudem an ihrem C-Terminus drei nahezu perfekte Wiederholungen auf und ihre DNA-Sequenzen befinden sich im gleichen chromosomalen Locus, der mit dem Kornertrag assoziiert ist. Trotz der großen Unterschiede in der kodierenden Sequenz von Jek1 und Jek3 stimmen die Promotor-Regionen weitgehend überein und beide Gene sind an der gleichen Stelle von einem Intron unterbrochen.

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2006 beschrieben Forscher des IPK in Gatersleben zum ersten Mal das sogenannte Jekyll-Gen in der Gerste (Hordeum vulgare). Einerseits ist das Gen essentiell für die sexuelle Fortpflanzung, andererseits ist Jekyll beim Zellabbau involviert.

2006 beschrieben Forscher des IPK in Gatersleben zum ersten Mal das sogenannte Jekyll-Gen in der Gerste (Hordeum vulgare). Einerseits ist das Gen essentiell für die sexuelle Fortpflanzung, andererseits ist Jekyll beim Zellabbau involviert.

Bildquelle: © Pflanzenforschung.de

Am erstaunlichsten ist vielleicht aber, dass Jek3 trotz aller Unterschiede in Mutanten mit ausgeschaltetem Jek1 dessen Funktion wiederherstellen kann. „Wir stellen daher die Hypothese auf, dass Jek1 und Jek3 stark voneinander abweichende Allele desselben Gens sind“, resümieren die IPK-Forscher.

Einfluss auf die Entstehung des Tribus

Über die Gründe für diese ungewöhnliche duale allelische Konstellation können die Wissenschaftler nur spekulieren. Denkbar wäre, dass Jek1 und Jek3 unter unterschiedlichen Umweltbedingungen jeweils Vorteile bieten. Da es jedoch für keines der Allele eine Assoziation mit geografischen Ursprüngen oder wesentlichen phänotypischen Merkmalen gibt, könnte schlicht auch die Domestikation der Gerste eine Rolle gespielt haben.

Tatsächlich findet sich Jekyll nur in Genomen der eng verwandten Triticeae und Bromeae. Wahrscheinlich entstand das Gen im Vorläufer dieser beiden Triben und könnte mit dazu beigetragen haben, dass diese sich von den Brachypodieae separiert haben. Die stark veränderte Aminosäuresequenz bei konservierter Tertiärstruktur ist oft ein Zeichen schneller Evolution. Und sowohl Triticeae als auch Bromeae unterscheiden sich in der der Struktur ihrer nucellaren Projektion – dort, wo Jekyll exprimiert wird – von anderen Süßgräsern.

Für die Pflanzenforschung ergibt sich aus dieser Entdeckung auf jeden Fall eine wichtige Lehre: Auch in anderen Arten könnten extrem unterschiedliche Allele mit konservierter Funktion unerkannt geblieben sein, da die darin enthaltenen funktionell homologen Sequenzen nicht einfach durch einen Sequenzabgleich identifiziert werden können.


Quelle:
Radchuk, V., et al. (2019): The highly divergent Jekyll genes, required for sexual reproduction, are lineage speci?c for the related grass tribes Triticeae and Bromeae. In: The Plant Journal, (25. April 2019), doi: 10.1111/tpj.14363.

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Titelbild: Gerste verfügt über das Jekyll-Gen, das ungewöhnliche Allele aufweist. (Bildequelle: © Hans Braxmeier/Pixabay/CC0)