Pflanzen unter Vollnarkose

Anästhetika wirken nicht nur bei Menschen

17.01.2018 | von Redaktion Pflanzenforschung.de

Unter Vollnarkose tut die Venusfliegenfalle keiner Fliege etwas zuleide. (Bildquelle: © Tristan Gillingwater/Wikimedia.org/CC BY-SA 2.0)

Unter Vollnarkose tut die Venusfliegenfalle keiner Fliege etwas zuleide. (Bildquelle: © Tristan Gillingwater/Wikimedia.org/CC BY-SA 2.0)

Obwohl die Medizin Anästhetika seit über 150 Jahren einsetzt, sind die Wirkmechanismen noch nicht völlig aufgedeckt. Warum genau verlieren Menschen das Bewusstsein oder werden die Sinne taub? Hier könnte kurioserweise die Pflanzenforschung weiterhelfen. Forscher der Universität Bonn haben interessante Antworten.

Die gefiederten Blätter sind das Markenzeichen der Mimose (Mimosa pudica). Ebenso die Schnelligkeit, mit der sich diese bei leisester Berührung schließen. Steht das Gewächs aber vorübergehend unter dem Einfluss von Diethylether, bleibt der Schließreflex aus. Sie ist wie betäubt und bis die Tropenpflanze ihr typisches Verhalten wieder zeigt, vergehen mehrere Stunden.

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Unter dem Einfluss von Diethylether klappen sich die Blätter der Mimose nicht mehr ein.

Unter dem Einfluss von Diethylether klappen sich die Blätter der Mimose nicht mehr ein.

Bildquelle: © David J. Stang/Wikimedia.org/CC BY-SA 4.0

Die Falle schnappt nicht zu

Eine ähnliche Wirkung entfaltet dieser Wirkstoff bei der Venusfliegenfalle (Dionaea muscipula). Narkotisiert bleiben die Fangblätter sperrangelweit offen, auch wenn die Fühlborsten an den Blättern gereizt werden. Nach der Reizung entsteht - ähnlich wie bei menschlichen Nervenzellen - ein elektrisches Signal (Aktionspotenzial), das aber bei Narkose nicht weitergeleitet wird. Über die Hintergründe ist noch nicht viel bekannt. Vermutet wird aber, dass das Anästhetikum die Struktur und Funktionalität von Proteinen in der Doppellipidmembran beeinflusst. Dies wirkt sich auf Eigenschaften, wie die Dicke der Doppellipidschicht, Elastizität und physikalische Funktionen aus, wodurch die Reizweiterleitung verhindert wird. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die Ranken der Erbse (Pisum sativum) ihre Rotationsbewegungen einstellen, wenn die Pflanze für eine Stunde unter einer Glasglocke mit diethyletherhaltiger Luft steht.

Was passiert mit Samen unter Vollnarkose?

Betroffen sind nicht nur ausgewachsene Pflanzen. Werden Samen der Gartenkresse (Lepidium sativum) in einer luftdicht versiegelten Petrischale mit flüchtigen Anästhetika bedampft, sind sie nicht mehr in der Lage, die Keimruhe (Dormanz) unter günstigen Bedingungen zu beenden. Wird die Anästhetikazufuhr beendet, verzögert sich die Keimung nochmals um 24 Stunden. Anschließend haben die Keimlinge keine grünen, sondern gelbe Keimblätter. Ein Fall von Chlorophyllmangel, der ebenfalls auf eine Beeinträchtigung der Membranaktivität und -struktur schließen lässt. Betroffen sein könnten diesmal die lamellenartigen Thylakoidmembranen, die die grünen Chlorophyll-Pigmente enthalten.

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Normalerweise haben Kressekeimlinge grüne Blätter. Standen die Samen unter dem Einfluss von Anästhetika, sind diese aufgrund mangelnden Chlorophylls gelb. 

Normalerweise haben Kressekeimlinge grüne Blätter. Standen die Samen unter dem Einfluss von Anästhetika, sind diese aufgrund mangelnden Chlorophylls gelb. 

Bildquelle: © DoubleMcK/Pixabay/CC0

Pflanzen sind Anästhetika-Fabriken

Dass Pflanzen grundsätzlich auf Anästhetika aus der Humanmedizin reagieren, ist keine große Überraschung. Denn auch sie produzieren in Stresssituationen Moleküle, die auf Mensch und Tier betäubend wirken. Dazu zählen Ethylen, Ethan, Acetaldehyd oder Ethanol. Ethylen spielt beispielsweise eine Rolle bei der Schattenvermeidungsreaktion von Tabakpflanzen (Nicotiana tabacum), die über den Ethylengehalt in der Luft Nachbarpflanzen in ihrer Nähe „wittern“.

Es gibt noch viele ungelöste Fragen zu den Wirkmechanismen von Anästhetika. Sollte sich herausstellen, dass diese Substanzen in Mensch und Pflanze ähnliche Prozesse auslösen, könnte dies für die Humanmedizin interessant sein. Pflanzen wären dann als Versuchsobjekte bei der Entwicklung von neuen Anästhetika interessant. Vielleicht lässt sich erst über den Umweg der Pflanzenbiologie das Geheimnis lüften, warum uns Menschen unter Narkose schwarz vor Augen wird. 


Quelle: Yokawa, K. et al. (2017): Anaesthetics stop diverse plant organ movements, affect endocytic vesicle recycling and ROS homeostasis, and block action potentials in Venus flytraps. In: Annals of Botany 00: 1-10, (11.Dezember 2017),  https://doi.org/10.1093/aob/mcx155

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