Digitale Zeitreise durchs Pflanzenwachstum

Ein neuer Algorithmus erlaubt präzisere Zuchtprognosen

24.06.2025 | von Redaktion Pflanzenforschung.de

Mit dynamicGP Züchtung neu denken: Der Algorithmus verknüpft genomische Daten mit Wachstumsverläufen – und macht präzise Vorhersagen für Merkmale wie Trockenheitstoleranz oder Krankheitsresistenz. (Bildquelle: © Pflanzenforschung.de, erstellt mit Midjourney.com)

Mit dynamicGP Züchtung neu denken: Der Algorithmus verknüpft genomische Daten mit Wachstumsverläufen – und macht präzise Vorhersagen für Merkmale wie Trockenheitstoleranz oder Krankheitsresistenz. (Bildquelle: © Pflanzenforschung.de, erstellt mit Midjourney.com)

Wie entwickelt sich eine Pflanze – und was verrät ihr Erbgut darüber? Ein neues Verfahren namens dynamicGP macht es möglich, agronomisch wichtige Merkmale wie Trockenheitstoleranz über den gesamten Lebenszyklus hinweg vorherzusagen. Das eröffnet neue Perspektiven für Züchtung, Präzisionslandwirtschaft und Klimaanpassung.

In der Pflanzenzüchtung ist es wie im Spitzensport: Wer das Potenzial früh erkennt, spart Zeit, Ressourcen – und erhöht die Erfolgschancen. Doch während klassische Vorhersagemodelle meist Momentaufnahmen betrachten, zeigen viele agronomisch wichtige Eigenschaften erst im Laufe der Entwicklung ihr wahres Gesicht. Eine Krankheitsresistenz kann in der Jugend schwach, zur Blütezeit aber stark ausgeprägt sein. Die Reaktion auf Trockenheit oder die Effizienz der Nährstoffaufnahme verändert sich je nach Wachstumsphase. Das neue Verfahren dynamicGP, vorgestellt von einem internationalen Forschungsteam in Nature Plants, verspricht nun: Wir können diese Verläufe vorhersagen – direkt aus dem Erbgut der Pflanzen.

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Hightech fürs Pflanzenwachstum: In der PhenoSphere am IPK Gatersleben werden Eigenschaften von Kulturpflanzen unter kontrollierten Bedingungen automatisch erfasst – eine Schlüsseltechnologie für die Hochdurchsatzphänotypisierung und Modelle wie dynamicGP.

Hightech fürs Pflanzenwachstum: In der PhenoSphere am IPK Gatersleben werden Eigenschaften von Kulturpflanzen unter kontrollierten Bedingungen automatisch erfasst – eine Schlüsseltechnologie für die Hochdurchsatzphänotypisierung und Modelle wie dynamicGP.

Bildquelle: © J. Himpe / IPK Gatersleben

Dynamik statt Momentaufnahme

Das Verfahren dynamicGP wurde federführend am Max-Planck-Institut für Molekulare Pflanzenphysiologie in Potsdam und dem IPK Gatersleben entwickelt. Es kombiniert zwei bisher getrennte Forschungsansätze: die genomische Vorhersage (Genomic Prediction, GP), die genetische Marker mit Pflanzenmerkmalen verknüpft, und die dynamische Modenzerlegung (Dynamic Mode Decomposition, DMD), ein mathematisches Verfahren, das Veränderungen über die Zeit analysiert. Letzteres stammt ursprünglich aus der Strömungsmechanik, wird inzwischen aber auch in der Neurobiologie oder Epidemiologie verwendet. Die Kombination ermöglicht es erstmals, den zeitlichen Verlauf mehrerer Merkmale gleichzeitig für bestimmte Genotypen zu prognostizieren.

"Wir haben gezeigt, dass dynamicGP ein effizienter computergestützter Ansatz zur Vorhersage genotyp-spezifischer Dynamiken für mehrere Merkmale ist", sagt David Hobby vom MPI-MP, einer der Erstautoren.

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Blick unter die Erde: Im Rhizotron der PhenoSphere lassen sich auch Wurzelwachstum und -architektur sichtbar machen – entscheidend für die Analyse z.B. von Trockenstresstoleranz.

Blick unter die Erde: Im Rhizotron der PhenoSphere lassen sich auch Wurzelwachstum und -architektur sichtbar machen – entscheidend für die Analyse z.B. von Trockenstresstoleranz.

Bildquelle: © J. Himpe / IPK Gatersleben

Getestet bei Mais und Arabidopsis

Um das Verfahren zu validieren, nutzten die Forschenden zwei umfassende Datensätze: eine MAGIC-Population von Mais mit mehreren Hundert Linien aus gezielten Kreuzungen mit hoher genetischer Diversität sowie ein Diversitätspanel von Arabidopsis thaliana mit über 380 Genotypen.

Beide wurden mit Hilfe von Hochdurchsatz-Phänotypisierungsplattformen (HTP) über mehrere Wochen hinweg untersucht. Gemessen wurden mehr als 500 Merkmale pro Pflanze – teils visuell, teils über Farb- und Geometrieanalysen, etwa der Blattwinkel, Flächenanteile oder spektrale Kennzahlen. Für die Züchtung besonders spannend: Viele dieser bildbasierten Merkmale lassen sich als Proxy für agronomisch relevante Eigenschaften interpretieren – etwa Biomassebildung, Blattgesundheit, Wasserhaushalt oder Stressreaktionen.

Das Forschungsteam trainierte sein Modell zunächst an bekannten Linien und sagte anschließend für bislang unbekannte Genotypen die vollständigen Zeitreihen dieser Merkmale voraus. Die Vorhersagegüte war bemerkenswert: Für einzelne Merkmale betrug die Korrelation zwischen den tatsächlich gemessenen und den von dynamicGP vorhergesagten Ausprägungen bis zu 0,85 – ein Wert, der auf eine sehr starke Übereinstimmung hinweist (1,0 wäre eine perfekte Vorhersage). Damit übertrifft das Verfahren deutlich klassische Modelle wie RR-BLUP, die meist nur Momentaufnahmen berücksichtigen.

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Schatzkammer der Vielfalt: Die Genbank am IPK Gatersleben liefert das genetische Ausgangsmaterial für Studien wie dynamicGP.

Schatzkammer der Vielfalt: Die Genbank am IPK Gatersleben liefert das genetische Ausgangsmaterial für Studien wie dynamicGP.

Bildquelle: © J. Himpe / IPK Gatersleben

Stabilere Erblichkeit = bessere Vorhersage

Ein zentrales Ergebnis: Die Vorhersagequalität war besonders hoch für Merkmale, deren Heritabilität im Zeitverlauf stabil blieb. "Wir haben festgestellt, dass die Entwicklungsdynamik von Merkmalen, deren Erblichkeit im Laufe der Zeit weniger variiert, mit höherer Genauigkeit vorhergesagt werden kann", sagt Dr. Marc Heuermann vom IPK Gatersleben. "Das ermöglicht Aussagen über die Vorhersagbarkeit von Merkmalen über den gesamten Entwicklungsverlauf hinweg."

Damit wird dynamicGP auch zu einem Werkzeug, um Merkmale selbst besser zu verstehen: Welche Eigenschaften bleiben genetisch stabil, welche schwanken stark mit Umwelt oder Entwicklungsstadium? Dieses Wissen könnte helfen, Zuchtstrategien gezielter zu steuern – etwa indem man stabil vorhersehbare Merkmale bevorzugt.

Iterativ oder rekursiv: Zwei Wege zur Prognose

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Von der Zelle zur Sorte: Genomeditierten Pflanzen eröffnen neue Züchtungspotenziale – dynamicGP könnte hier eine große Hilfe sein, vielversprechende Linien frühzeitig zu identifizieren und Entwicklungsverläufe dieser Pflanzen präzise vorherzusagen.

Von der Zelle zur Sorte: Genomeditierten Pflanzen eröffnen neue Züchtungspotenziale – dynamicGP könnte hier eine große Hilfe sein, vielversprechende Linien frühzeitig zu identifizieren und Entwicklungsverläufe dieser Pflanzen präzise vorherzusagen.

Bildquelle: © Andreas Bähring / IPK Gatersleben

Das Verfahren kann in zwei Varianten betrieben werden. Die iterative Methode nutzt bei jeder Vorhersage den gemessenen Zustand zum jeweiligen Zeitpunkt. Das bringt hohe Genauigkeit, benötigt aber phänotypische Daten zu jedem Schritt. Die rekursive Methode dagegen startet mit einem einzigen Messwert und baut jede Vorhersage auf der vorherigen auf. Das ist praxisnäher – aber anfälliger für Fehlerakkumulation.

In der Studie schnitt die iterative Variante im Mittel besser ab, doch auch das rekursive Modell war in vielen Fällen der klassischen GP überlegen und ist gerade für den Zuchteinsatz unter Praxisbedingungen relevant, wo oft nur wenige Zeitpunkte messbar sind.

Brücke zur Präzisionslandwirtschaft: Sortenwahl nach Entwicklungskurve

Auch für die Präzisionslandwirtschaft eröffnet dynamicGP neue Möglichkeiten. Bisherige digitale Verfahren – etwa sensorgestützte Düngung oder Bewässerung – arbeiten vor allem reaktiv: Sie passen Maßnahmen an sichtbare Zustände der Pflanzen an. dynamicGP erlaubt einen vorausschauenden Ansatz: Wenn bereits zur Aussaat bekannt ist, wie sich eine Sorte im Zeitverlauf entwickeln wird, können Standortwahl, Saatdichte oder Anbaustrategie individuell angepasst werden.

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Schematische Darstellung von dynamicGP a) Daten zu phänotypischen Merkmalen (p) eines Genotyps werden über die Zeit (T) gesammelt und verwendet, um einen zeitinvarianten linearen Operator (A) zu finden, der das Phänom von einem Zeitpunkt zum nächsten transformiert. b) Wenn zeitaufgelöste Daten für mehrere (k) Genotypen verfügbar sind, erhält man einen p x p x k-Tensor, dessen Elemente bei Heritabilitätsanalysen und genomischen Vorhersagen als Merkmale behandelt werden können. c) Anschließend können Modelle für ungesehene Linien anhand ihrer genetischen Informationen trainiert und zur Vorhersage künftiger Zeitpunkte für die Linie verwendet werden.

Schematische Darstellung von dynamicGP a) Daten zu phänotypischen Merkmalen (p) eines Genotyps werden über die Zeit (T) gesammelt und verwendet, um einen zeitinvarianten linearen Operator (A) zu finden, der das Phänom von einem Zeitpunkt zum nächsten transformiert. b) Wenn zeitaufgelöste Daten für mehrere (k) Genotypen verfügbar sind, erhält man einen p x p x k-Tensor, dessen Elemente bei Heritabilitätsanalysen und genomischen Vorhersagen als Merkmale behandelt werden können. c) Anschließend können Modelle für ungesehene Linien anhand ihrer genetischen Informationen trainiert und zur Vorhersage künftiger Zeitpunkte für die Linie verwendet werden.

Bildquelle: © IPK Leibniz-Institut

Beispiel: Eine Maissorte mit langsamer Jugendentwicklung, aber robuster Wurzelbildung lässt sich gezielt auf Standorten einsetzen, die in den ersten Wochen trocken sind, aber später Wasser liefern. Oder: Eine Sorte mit früh einsetzender Krankheitsresistenz eignet sich besonders für Regionen mit hohem Infektionsdruck in der Jugendphase.

In Verbindung mit digitalen Karten, Wetterprognosen und Feldrobotik könnten die aus dynamicGP abgeleiteten Zeitprofile künftig genutzt werden, um sortenspezifische Anbauempfehlungen zu geben – ganz im Sinne einer datenbasierten, resilienzorientierten Landwirtschaft.

Fazit: Höchste Relevanz für Forschung und Praxis

Mit dynamicGP könnte ein neuer Standard in der Pflanzenzüchtung etabliert werden – insbesondere, wenn zeitaufgelöste Daten aus Feldversuchen oder kontrollierten Umgebungen zunehmend verfügbar sind. Das Verfahren hat das Potenzial, den Selektionszeitraum deutlich zu verkürzen, den Phänotypisierungsaufwand zu reduzieren und die Anpassung von Sorten an Klimaszenarien zu verbessern.

Das Forschungsteam sieht weiteres Potenzial: "Zukünftige Entwicklungen von dynamicGP können auf Erweiterungen von DMD aufbauen, um auch die Auswirkungen von Umweltfaktoren zu berücksichtigen", heißt es in der Pressemitteilung des Forschungsteams. Damit könnten Züchtungsentscheidungen künftig noch besser auf Regionen oder klimatische Bedingungen abgestimmt werden – etwa in Form von digitalen Zuchtprognosen oder als Baustein in der Präzisionslandwirtschaft.


Quellen:

Zum Weiterlesen auf Pflanzenforschung.de:

Titelbild: Mit dynamicGP Züchtung neu denken: Der Algorithmus verknüpft genomische Daten mit Wachstumsverläufen – und macht präzise Vorhersagen für Merkmale wie Trockenheitstoleranz oder Krankheitsresistenz. (Bildquelle: © Pflanzenforschung.de, erstellt mit Midjourney.com)