„Forschung bedeutet für mich: immer wieder das Unbekannte wagen.“
Interview mit Leen Abraham
Leen Abraham erforscht, wie epigenetische Mechanismen dazu beitragen, dass Pflanzen trotz ähnlicher Erbinformation unterschiedliche Eigenschaften entwickeln. (Bildquelle © Lina Abdelwahed)
Pflanzen sind Meister der Anpassung und voller Rätsel. Warum wächst die eine schneller als die andere? Weshalb reagieren manche Arten robust auf Stress, während andere empfindlich sind?
Pflanzenforschung.de: Frau Abraham, warum sind Pflanzen selbst bei ähnlicher Erbinformation manchmal ganz unterschiedlich?
Leen Abraham nutzt mathematische Modelle, um Zusammenhänge zwischen Epigenetik und Pflanzeneigenschaften sichtbar zu machen.
Bildquelle: © Lina Abdelwahed
Leen Abraham: Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Auf den ersten Blick könnte man meinen: Wenn die Gene gleich sind, müssten auch die Eigenschaften identisch sein. Aber so einfach ist es nicht. Viele Gene wirken zusammen, beeinflussen sich gegenseitig und können unterschiedlich stark aktiv sein. Hinzu kommt eine zusätzliche „Steuerungsebene“ – Epigenetik. Sie bestimmt mit, wann und wie stark bestimmte Gene genutzt werden, und kann so sichtbare Unterschiede zwischen ansonsten genetisch sehr ähnlichen Pflanzen hervorrufen.
Pflanzenforschung.de: Welche Rolle spielt die Epigenetik?
Leen Abraham: Die Epigenetik ist gewissermaßen ein Markierungssystem, das bestimmt, welche Gene aktiv sind und welche stumm bleiben. Solche chemischen „Tags“ verändern nicht die Sequenz der DNA, beeinflussen aber, wie die genetische Information abgelesen und genutzt wird. Dadurch entsteht eine zusätzliche Ebene biologischer Variation, die sich schwer vorhersagen lässt. In unserem Projekt EPIDOM wollen wir herausfinden, ob und wie diese epigenetischen Markierungen die Unterschiede zwischen Pflanzen verstärken – und ob sich diese Variation künftig für die Züchtung von Nutzpflanzen nutzbar machen lässt.
Pflanzenforschung.de: Was untersuchen Sie da genau?
Leen Abraham: Wir erforschen die sogenannte Dominanzvarianz. Damit meinen wir die Unterschiede in der Ausprägung bestimmter Eigenschaften, wenn man zwei Pflanzen miteinander kreuzt. Stellen Sie sich vor, man kreuzt zwei ertragreiche Sorten: Unter den Nachkommen finden sich dann manche, die ebenfalls hohe Erträge bringen, und andere, die weniger leistungsfähig sind. Solche Unterschiede beruhen nicht allein auf der genetischen Ausstattung, sondern können auch durch zusätzliche Steuermechanismen entstehen – zum Beispiel durch epigenetische Prozesse. Wir wollen herausfinden, wie groß der Beitrag der Epigenetik zur Dominanzvarianz ist und warum sich bestimmte Pflanzenmerkmale so schwer vorhersagen lassen.
Pflanzenforschung.de: Wie gehen Sie vor, um den Einfluss der Epigenetik aus den vielen anderen Faktoren herauszulesen?
Oben: Leen Abraham (rechts) und eine Kollegin untersuchen die Versuchspflanzen. Unten: Als Modell dient ihnen die Leierblatt-Felsenkresse.
Bildquelle: © Lina Abdelwahed
Leen Abraham: Dafür brauchen wir zunächst ein Modellsystem, das im Labor verlässliche und reproduzierbare Ergebnisse liefert. Wir arbeiten deshalb mit der Leierblatt-Felsenkresse (Arabidopsis lyrata), einer nahen Verwandten der bekannten Ackerschmalwand. Diese Pflanze ist klein, wächst schnell und ihr Erbgut ist bereits sehr gut erforscht – ideale Voraussetzungen für unsere Experimente.
Wir führen gezielte Kreuzungen durch und vergleichen anschließend Geschwister und Halbgeschwister, um Unterschiede statistisch aufzuschlüsseln. Parallel erfassen wir epigenetische Daten, insbesondere DNA-Methylierung, sowie Informationen zur Genexpression. Alle diese Datensätze werden schließlich zusammengeführt und mithilfe mathematischer Modelle ausgewertet.
Pflanzenforschung.de: Wie kann man sich die Berechnung vorstellen?
Leen Abraham: Im Detail ist das natürlich komplex, aber das Grundprinzip ist einfach. Wenn sich die Wirkung einzelner Gene schlicht addiert, besteht ein linearer Zusammenhang zwischen Genetik und Merkmal – ähnlich wie beim Mischen von Farben: Rot plus Gelb ergibt Orange, das Ergebnis ist vorhersehbar. In der Realität weicht es jedoch häufig davon ab. Diese Abweichungen bezeichnet man als Dominanzvarianz, und sie kann verschiedene Ursachen haben.
Unsere Rechenmodelle helfen uns, solche Abweichungen zu quantifizieren und Muster in den großen Datensätzen zu erkennen, die man sonst übersehen würde. Auf diese Weise können wir bestimmen, welche Unterschiede tatsächlich auf Gene oder epigenetische Einflüsse zurückgehen – und welche eher durch Umweltfaktoren erklärt werden.
Pflanzenforschung.de: Welche Erkenntnisse haben Sie bisher gewonnen?
Im Labor überprüft Leen Abraham sorgfältig die Qualität der genomischen DNA, bevor diese für die aufwendige Sequenzierung vorbereitet wird.
Bildquelle: © Lina Abdelwahed
Leen Abraham: Wir haben festgestellt, dass die Epigenetik – insbesondere in Form der DNA-Methylierung – zwar eine Rolle spielt, ihr Einfluss jedoch deutlich geringer ist als der anderer Faktoren, etwa der Umwelt. Diese scheint die Aktivität der Gene wesentlich stärker zu prägen. Gleichzeitig schließen wir nicht aus, dass andere epigenetische Mechanismen – zum Beispiel Veränderungen an den Histonen, also den Verpackungsproteinen der DNA – für die Dominanzvarianz bedeutsamer sein könnten. Das wäre ein spannendes Thema für künftige Studien. Für die Pflanzenzüchtung heißt das: DNA-Methylierungen haben vermutlich weniger Auswirkungen auf die Merkmale einer Pflanze, als man bislang vermutet hat. Da ihre Analyse zudem aufwendig und teuer ist, lohnt sich eine routinemäßige Untersuchung derzeit nicht.
Pflanzenforschung.de: Bedeutet das eine Kursänderung für Ihr Projekt?
Leen Abraham: Ja, in gewisser Weise schon. Wir richten den Blick inzwischen weniger auf die direkte Anwendung in der Pflanzenzüchtung und konzentrieren uns stärker auf natürliche Pflanzenpopulationen. Uns interessiert, ob und wie epigenetische Prozesse Pflanzen helfen, sich an wechselnde Umweltbedingungen anzupassen – oder ob sie diesen Prozess vielleicht sogar bremsen. Das ist eine noch offene Frage.
Und genau darin liegt für mich das Wesen von Forschung: Man bewegt sich ständig auf unbekanntem Terrain. Es gibt keinen Punkt, an dem man sagen kann: „Jetzt weiß ich alles.“ Jedes neue Projekt ist ein Neubeginn. Man muss lernen, diese Unsicherheit auszuhalten – das macht die Arbeit zugleich herausfordernd und erfüllend.
Pflanzenforschung.de: Wie sind Sie zu den Pflanzenwissenschaften gekommen?
Leen Abraham:
Ich bin in Kerala, im Süden Indiens, aufgewachsen – umgeben von Farmen und Gärten. Pflanzen waren ein selbstverständlicher Teil des Alltags, und bereits als Kind pflegte ich ein eigenes kleines Beet. Ich liebte es, Pflanzen beim Wachsen zuzusehen – doch was mich wirklich geprägt hat, war meine Neugier: Ich wollte immer verstehen, warum etwas so geschieht, wie es geschieht.
Im Rahmen meines Masters arbeitete ich an einem Projekt mit Pflanzen und entdeckte, wie spannend es ist, biologische Fragestellungen mithilfe von Daten zu untersuchen. Während meiner Promotion in der Schweiz untersuchte ich Pilzpopulationen und vertiefte mein Verständnis für Muster in umfangreichen Datensätzen. Dabei wurde mir bewusst, dass mich vor allem die Möglichkeit motiviert, verborgene Zusammenhänge und „Geschichten“ in biologischen Daten zu erkennen – unabhängig davon, ob sie von Pflanzen, Pilzen oder anderen Organismen stammen.
Heute vereint meine Arbeit meine frühe Verbindung zur Natur mit meiner Begeisterung für Datenanalyse. Es ist besonders erfüllend zu erleben, wie sich durch Zahlen und Muster tiefere Einblicke in die Funktionsweise lebender Systeme gewinnen lassen.
Pflanzenforschung.de: Wohin soll Ihr Weg Sie künftig führen?
Leen Abraham: Ich möchte meine Kenntnisse in Datenanalyse und Deep Learning weiter vertiefen und ausbauen. Die Arbeit mit komplexen biologischen Datensätzen fasziniert mich besonders – sie enthalten oft verborgene Informationen, die darauf warten, entdeckt zu werden. Methoden des maschinellen Lernens eröffnen völlig neue Zugänge zur Biologie, insbesondere bei der Verknüpfung von Genomdaten mit pflanzlichen Merkmalen. Ich hoffe, diese Schnittstelle weiter zu ergründen, denn jeder Datensatz bietet die Chance, überraschende Zusammenhänge sichtbar zu machen.
Pflanzenforschung.de: Sie haben im Rahmen des Mentoring-Programms der PLANT 2030 ACADEMY den Austausch mit der Industrie gesucht. Welche Erfahrungen oder Einsichten waren dabei für Sie besonders wichtig?
Leen Abraham: Das Mentoring-Programm bot mir eine wertvolle Gelegenheit, die praktische Verbindung zwischen Forschung und Industrie kennenzulernen. Besonders spannend war es für mich zu erfahren, wie wissenschaftliche Konzepte in konkrete Anwendungen überführt werden – und wie entscheidend dabei Zusammenarbeit und Kommunikation sind. Die Gespräche mit Fachleuten aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen haben mir gezeigt, wie wichtig strukturiertes Teamwork und zielorientiertes Denken sind – Kompetenzen, die auch in akademischen Projekten eine zentrale Rolle spielen. Durch diese Erfahrungen habe ich ein tieferes Verständnis dafür gewonnen, wie eng Forschung und Anwendung miteinander verknüpft sind und wie beide Seiten von diesem Austausch profitieren.
Pflanzenforschung.de: Was würden Sie Studierenden und Forschenden am Anfang ihrer Laufbahn gern mit auf den Weg geben?
Leen Abraham: Viele glauben, gute Forschungsideen entstünden aus einem plötzlichen Geistesblitz. In Wirklichkeit steckt dahinter viel Arbeit: gründliches Lesen, intensive Diskussionen, Experimente und das bewusste Suchen nach Lücken im Wissen. Ich bin überzeugt, dass Kreativität in der Wissenschaft etwas ist, das man entwickeln und trainieren kann – wie andere Fähigkeiten auch. Dieses Bewusstsein kann gerade am Anfang Mut machen und Zuversicht geben.
Pflanzenforschung.de: Haben Sie vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg für Ihre Vorhaben!
Zum Weiterlesen auf Pflanzenforschung.de:
- Von Nordafrika bis zum Polarkreis – Epigenom lässt Arabidopsis fast überall wachsen
- Nahe verwandt und doch getrennt – Die Leierblatt-Felsenkresse Arabidopsis lyrata
Titelbild: Leen Abraham erforscht, wie epigenetische Mechanismen dazu beitragen, dass Pflanzen trotz ähnlicher Erbinformation unterschiedliche Eigenschaften entwickeln. (Bildquelle © Lina Abdelwahed)