Heilpflanzen besser verstehen
Neue Einzelzell-Methode beschleunigt Suche nach pflanzlichen Arzneistoffen
Das Madagaskar-Immergrün (Catharanthus roseus) ist eine Heilpflanze, aus der die Krebsmittel Vinblastin und Vincristin gewonnen werden. Forschende haben nun erstmals gezeigt, welche Zellen an der Bildung dieser Wirkstoffe beteiligt sind. (Bildquelle: © Jane Wong S.K., eigenes Werk /Wikipedia, CC BY-SA 3.0)
Wie entstehen komplexe pflanzliche Wirkstoffe – und welche Zellen sind an ihrer Produktion beteiligt? Ein Team am Max-Planck-Institut für Chemische Ökologie in Jena kombiniert erstmals Einzelzell-RNA-Sequenzierung und Einzelzell-Massenspektrometrie in derselben Pflanzenzelle. Damit wird die molekulare Choreografie sichtbar, die der Biosynthese medizinisch relevanter Naturstoffe zugrunde liegt – und eröffnet neue Wege zu nachhaltigeren pflanzlichen Arzneimitteln.
Die Herstellung pflanzlicher Wirkstoffe gleicht einem fein abgestimmten Tanz vieler Zellen. In einer Heilpflanze wie dem Madagaskar-Immergrün (Catharanthus roseus), das die Krebsmittel Vinblastin und Vincristin liefert, sind verschiedene Zelltypen an der Produktion beteiligt. Jede Zelle steuert ihren eigenen Schritt in der chemischen Abfolge bei, Zwischenprodukte werden weitergereicht, gelagert oder abtransportiert.
Strukturformel von Vinblastin, einem komplexen Alkaloid aus dem Madagaskar-Immergrün (Catharanthus roseus). Der Wirkstoff wird in der Krebstherapie eingesetzt und entsteht durch die Verknüpfung mehrerer pflanzlicher Zwischenprodukte.
Bildquelle: Fvasconcellos, eigenes Werk / Wikipedia, gemeinfrei
„All diese Prozesse bilden ein komplexes Stoffwechselnetzwerk, das nur durch die Integration von Genexpressions- und Stoffweksdaten aus derselben Zelle vollständig verstanden werden kann“, erklärt Moonyoung Kang, eine der Erstautorinnen der neuen Studie.
Bislang war genau das ein zentrales Problem: Forschende konnten entweder messen, welche Gene in einer einzelnen Zelle aktiv sind – mittels Einzelzell-RNA-Sequenzierung (scRNA-seq) – oder welche chemischen Stoffwechselprodukte sie enthält, etwa mit Massenspektrometrie (scMS). Doch beide Informationen miteinander zu verknüpfen, also die genetischen Baupläne mit den tatsächlich produzierten Molekülen, war bislang nicht möglich.
Zwei Analysen, eine Zelle
Dem Team um Sarah O’Connor und Lorenzo Caputi ist nun genau das gelungen. Sie entwickelten ein Verfahren, das die Genaktivität und die chemischen Stoffwechselprodukte in ein und derselben Pflanzenzelle erfasst. Dafür isolierten sie einzelne Protoplasten der Heilpflanze Catharanthus roseus auf einem Mikrochip und überführten sie mithilfe eines Roboters präzise in die Vertiefungen einer 96-Well-Platte. Anschließend wurde jede Zelle aufgebrochen, ihr Inhalt auf zwei Proben verteilt – eine für die Genexpressionsanalyse, die andere für die Messung der Metabolite.
Moonyoung Kang und Hai Anh Vu betrachten eine Mikrotiterplatte mit einzelnen Zellen. Die Zellen werden für die simultane Einzelzell-RNA-Sequenzierung und Einzelzell-Massenspektrometrieanalyse verwendet.
Bildquelle: © Angela Overmeyer
„Weil jede Zelle ihre eigene Position in der 96-Loch-Platte hat, kann später jeder Datenpunkt genau zugeordnet werden. So lässt sich die Genaktivität einer Zelle direkt mit ihren chemischen Inhaltsstoffen vergleichen – und das in derselben Zelle“, betont Anh Hai Vu, die zweite Erstautorin.
Das Verfahren erlaubt erstmals den direkten Vergleich: Welche Gene sind in einer Zelle aktiv, und welche Moleküle entstehen tatsächlich? „Um die gesamte Logistik – von der Produktion über die Lagerung bis zur Verteilung – wirklich zu verstehen, ist es entscheidend, sowohl die genetischen Baupläne als auch die tatsächlichen Mengen der Produkte in den Zellen zu kennen“, sagt Lorenzo Caputi, Leiter der Projektgruppe Naturstoffbiosynthesewege in Pflanzen und Einzelzellen.
Molekulare Kartierung der Wirkstoffproduktion
Das Team analysierte knapp 300 Zellen des Madagaskar-Immergrüns, von denen 193 qualitativ auswertbar waren. Pro Zelle ließen sich im Schnitt rund 5.000 aktive Gene erfassen – eine außergewöhnlich tiefe Auflösung für pflanzliche Einzelzell-Analysen. Parallel dazu wurde das Metabolitenprofil jeder einzelnen Zelle über eine empfindliche UPLC-Massenspektrometrie erfasst, bei der die Stoffe chromatografisch getrennt, identifiziert und quantifiziert werden.
Dabei zeigte sich, dass Schlüsselverbindungen wie Logansäure, Secologanin, Catharanthin und Vindolin in einzelnen Zellen in Konzentrationen von bis zu mehreren Millimol pro Liter vorkommen können. Selbst komplexe Zwischenprodukte wie Anhydrovinblastin, ein direkter Vorläufer des Krebswirkstoffs Vinblastin, wurden in Mikromol-Mengen nachgewiesen. Auch Flavonoide wie Mauritianin – ein Kaempferol-Derivat – konnten erstmals präzise bestimmten Zelltypen zugeordnet werden.
Vom Blatt zur Medizin: Vincristin entsteht in spezialisierten Zellen des Madagaskar-Immergrüns und zählt zu den wichtigsten pflanzlichen Wirkstoffen in der modernen Krebstherapie.
Bildquelle: WH23, eigenes Werk / Wikipedia, gemeinfrei
Die Auswertung ergab ein klares Muster: Idioblasten, spezialisierte Speicherzellen, akkumulieren späte Alkaloid-Zwischenprodukte wie Vindolin und Anhydrovinblastin, während Epidermiszellen frühe Schritte der Biosynthese übernehmen, etwa die Bildung von Secologanin. Interessanterweise fanden die Forschenden sogar zwei Subtypen der Epidermis – eine, die ausschließlich Secologanin produziert, und eine zweite, die zusätzlich Flavonoide anreichert.
Auf molekularer Ebene ergaben sich eindeutige Korrelationen zwischen Genen und Metaboliten. Die Gene D4H, DAT und NMT, die die letzten Schritte der Vindolin-Synthese steuern, zeigten eine enge Übereinstimmung mit den zugehörigen Stoffwechselprodukten. Diese Zellen bildeten also nicht nur die Enzyme, sondern speicherten auch die Endprodukte. Dagegen zeigten frühe Biosynthesegene, die in der Epidermis aktiv sind, keine Korrelation mit gespeicherten Alkaloiden – ein Hinweis auf den intensiven Transport zwischen den Zelltypen.
Überraschende Entdeckung: ein neuer Speicherort
Besonders aufschlussreich war der Nachweis von Logansäure, einem Zwischenprodukt der Iridoid-Biosynthese. Nach bisherigem Verständnis wird diese Verbindung in sogenannten IPAP-Zellen nahe der Leitbündel gebildet und anschließend zur Epidermis transportiert. Im neuen Datensatz fand sich Logansäure jedoch nicht an diesen Orten, sondern in Zellen, die offenbar zu einem bislang nicht beschriebenen Zelltyp gehören. Hier könnte sich ein bislang übersehener Speicher- oder Transportort befinden.
Auch Transportproteine konnten mit der neuen Methode genauer zugeordnet werden. So deutet das Expressionsmuster des Transporters NPF2.4 darauf hin, dass er für den Import von Iridoid-Vorstufen in die Epidermis verantwortlich ist. Ein weiterer bekannter Transporter, TPT2, wurde dagegen in den untersuchten Blättern nicht nachgewiesen – möglicherweise, weil er nur in bestimmten Entwicklungsstadien aktiv ist.
Grenzen und Perspektiven
Von links nach rechts: Moonyoung Kang, Lorenzo Caputi, Sarah O’Connor und Hai Anh Vu, mit Catharanthus roseus-Pflanzen in den Händen, stehen neben einem Flüssigchromatographie-/Massenspektrometrie-System (LC/MS). Dieses System wird zur Analyse von Metaboliten in einzelnen Zellen verwendet.
Bildquelle: © Angela Overmeyer
Wie bei jeder Einzelzell-Technik gibt es auch hier Grenzen. Die Methode erfordert, dass Zellen als Protoplasten isoliert werden – ein Eingriff, der einzelne Stoffwechselvorgänge verändern kann. Vergleichsmessungen zeigten jedoch, dass die meisten Gene auch nach der Isolation stabil exprimiert bleiben. Die Zahl der untersuchten Zellen pro Experiment ist derzeit noch begrenzt, weil die Massenspektrometrie einen chromatografischen Schritt umfasst. Doch diese Einschränkung erkauft sich das Team mit einem entscheidenden Vorteil: einer exakten Identifizierung und Quantifizierung einzelner Moleküle.
Die Forschenden arbeiten nun daran, das Verfahren zu automatisieren und auf weitere Pflanzen und Gewebe auszudehnen – etwa auf Blätter, Wurzeln oder Stängel. Ziel ist es, pflanzliche Stoffwechselprozesse künftig noch genauer zu verstehen und gezielt zu beeinflussen. „Wir glauben, dass unsere neue Methode die Identifizierung wichtiger Stoffwechselwege beschleunigen wird, indem sie klare Einblicke in die beteiligten Zelltypen liefert. Außerdem wird sie die Entdeckung neuer Zelltypen in anderen Heilpflanzen ermöglichen und Vergleiche der Logistikstrategien verschiedener Pflanzenarten erleichtern“, fasst Sarah O’Connor zusammen.
Bedeutung für Biotechnologie und Medizin
Das neue Verfahren verbindet zwei Welten: die Genetik und die Chemie. Es zeigt, welche Zellen was produzieren, wo Stoffe zwischengelagert werden und welche Gene dafür verantwortlich sind. Damit wird es künftig möglich, Biosynthesewege pflanzlicher Naturstoffe schneller zu entschlüsseln und gezielt für biotechnologische Anwendungen zu nutzen – etwa um Wirkstoffe nachhaltiger herzustellen, deren natürliche Quellen selten oder gefährdet sind.
Quelle: Kang, M. et al. (2025): Single-cell metabolome and RNA-seq multiplexing on single plant cells. In: PNAS (24. Oktober 2025). doi: 10.1073/pnas.2512828122
Zum Weiterlesen auf Pflanzenforschung.de:
- Jede Zelle ein Unikat - Die genetische Vielfalt innerhalb eines Organismus muss besser erforscht werden
- Multi-Omics-Atlas für Reis - Forschende kombinieren Genaktivität und Chromatinstruktur auf Einzelzellebene
Titelbild: Das Madagaskar-Immergrün (Catharanthus roseus) ist eine Heilpflanze, aus der die Krebsmittel Vinblastin und Vincristin gewonnen werden. Forschende haben nun erstmals gezeigt, welche Zellen an der Bildung dieser Wirkstoffe beteiligt sind. (Bildquelle: © Jane Wong S.K., eigenes Werk /Wikipedia, CC BY-SA 3.0)