Kartoffeln im Zwiespalt
Wie Pflanzen zwischen Wachstum und Abwehr abwägen
Kartoffelknollen – an ihrem Ertrag zeigt sich, wie stark Pflanzen im Zielkonflikt zwischen Wachstum und Abwehr stehen, den das neue Stoffwechselmodell detailliert nachzeichnet. (Bildquelle: © Sylvia Breslin, Science and Advice for Scottish Agriculture / Wikimedia Commons, Open Government License 3)
Kartoffeln stehen vor einem Dilemma: Energie für schnelles Wachstum fehlt für die Abwehr von Schädlingen und Krankheiten – und umgekehrt. Ein internationales Forschungsteam hat nun das bislang umfassendste digitale Stoffwechselmodell der Kartoffel entwickelt, das diesen Zielkonflikt auf molekularer Ebene sichtbar macht. Die Ergebnisse eröffnen neue Perspektiven für die Züchtung ertragreicher und zugleich widerstandsfähiger Sorten.
Die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung hängt entscheidend von stabilen Ernten ab. Doch Umweltveränderungen, Viren und Insektenfraß führen jedes Jahr zu enormen Verlusten. Bis zu 80 Prozent der Kartoffelernte können durch Virusinfektionen oder den Befall durch den gefräßigen Kartoffelkäfer verloren gehen. Forschende der Universitäten Potsdam und Erlangen, des Max-Planck-Instituts für Molekulare Pflanzenphysiologie sowie des National Institute of Biology in Ljubljana haben nun gezeigt, wie sich die Balance zwischen Wachstum und Verteidigung in der Kartoffel auf molekularer Ebene berechnen und vorhersagen lässt.
Eine Kartoffelpflanze mit (links) und ohne (rechts) Virusinfektion – das Stoffwechselmodell konnte die durch das Potato virus Y ausgelösten Veränderungen im Wachstum und in der Abwehr präzise nachbilden.
Bildquelle: © Sara Fišer / NIB, Ljubljana (CC BY-NC-SA)
Ein digitales Abbild des Kartoffelstoffwechsels
Das Herzstück der Studie ist das Genom-Stoffwechselmodell Kartoffel-GEM – ein groß angelegtes, genomweites Stoffwechselmodell. Es vereint das Wissen aus mehreren bestehenden Pflanzenmodellen und wurde sorgfältig um die Besonderheiten der Kartoffel ergänzt. Neben den Grundprozessen des sogenannten Primärstoffwechsels – also Photosynthese, Atmung und der Aufbau von Eiweißen, Zuckern oder Nukleinsäuren – umfasst das Modell auch den kompletten Sekundärstoffwechsel der Kartoffel. Dort entstehen Hunderte spezieller Moleküle, die als Abwehrstoffe, Signalmoleküle oder Hormone fungieren.
Insgesamt bildet das Modell 7.092 Reaktionen mit 3.801 Metaboliten ab, darunter 566 Reaktionen, die 182 verschiedene Abwehrstoffe hervorbringen – von giftigen Alkaloiden über farbige Flavonoide bis hin zu wichtigen Hormonen wie Jasmon- und Salicylsäure.
„Die groß angelegte Stoffwechselrekonstruktion Kartoffel-GEM bildet den gesamten bekannten Sekundärstoffwechsel dieser wichtigen Kulturpflanze ab“, erklärt Zoran Nikoloski, Professor für Bioinformatik an der Universität Potsdam und Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für Molekulare Pflanzenphysiologie.
Warum Abwehr Wachstum bremst
Das Modell zeigt eindrücklich, wie eng Wachstum und Abwehr miteinander verknüpft sind. Je stärker die Kartoffelpflanze wächst, desto weniger Abwehrprozesse sind aktiv. Umgekehrt steigen die Abwehrreaktionen an, sobald die Pflanze ihr Wachstum drosselt. Den optimalen Schutz erreicht sie bei rund 60 Prozent ihrer maximal möglichen Wachstumsrate.
Besonders ressourcenintensiv ist die Produktion von Alkaloiden, hochwirksamen Abwehrstoffen gegen Insekten und Krankheitserreger. Ihre Herstellung kostet fast doppelt so viel Wachstumspotenzial wie andere Verteidigungsstoffe. Für die Pflanze ist es also ein riskanter Balanceakt: Mehr Schutz bedeutet weniger Energie für Knollenwachstum – und damit geringere Ernteerträge.
Stress im Experiment nachgestellt
Kartoffelkäfer beim Fraß an einem Kartoffelblatt – genau solche Stresssituationen simulierte das neue Stoffwechselmodell, um den Zielkonflikt zwischen Wachstum und Abwehr zu untersuchen.
Bildquelle: © Tavo Romann, / Wikimedia Commons, CC BY 4.0
Um die Modellvorhersagen zu überprüfen, konfrontierte das Team Kartoffelpflanzen mit zwei typischen Bedrohungen: dem Kartoffelkäfer (Colorado Potato Beetle, CPB) und dem Potato virus Y (PVY). Mittels Transkriptomanalysen – also Messungen, welche Gene in den Pflanzen unter Stress aktiv sind – wurde das Modell angepasst. Es konnte die beobachteten Effekte präzise widerspiegeln:
- Nach Virusbefall sank die relative Wachstumsrate der Kartoffelblätter auf nur noch etwa 10 Prozent des Normalwertes.
- Nach Käferfraß fiel sie auf rund 40 Prozent.
Gleichzeitig stieg die Produktion von Signalstoffen wie Salicylsäure (gegen Viren) und Jasmonat (gegen Insekten) deutlich an. Damit konnte Kartoffel-GEM nicht nur das verlangsamte Wachstum, sondern auch die spezifischen Abwehrreaktionen realitätsnah simulieren.
Mehr Ressourcen – weniger Zielkonflikt?
Die Simulationen legen außerdem nahe, dass die Verfügbarkeit von Nährstoffen eine entscheidende Rolle spielt. Unter Stickstoffmangel etwa verstärkte die Pflanze ihre Abwehr sogar noch, während bei guter Versorgung das Wachstum Vorrang hatte. Das deutet darauf hin, dass eine gezielte Steuerung der Nährstoffversorgung helfen könnte, den Zielkonflikt zwischen Wachstum und Verteidigung abzumildern.
Bedeutung für die Landwirtschaft
Die Erkenntnisse haben direkte Konsequenzen für die Pflanzenzüchtung. Moderne Sorten wurden lange vor allem auf Ertrag optimiert – oft auf Kosten natürlicher Abwehrmechanismen. Das neue Modell könnte helfen, diese Balance künftig bewusster auszutarieren.
„Die molekularen Mechanismen besser zu verstehen, die der Stressreaktion von Pflanzen zugrunde liegen, kann Züchtungsstrategien verbessern und uns helfen, Pflanzensorten mit verbesserter Stresstoleranz, Ertrag und Qualität zu entwickeln“, fasst Nikoloski zusammen.
Damit eröffnet Kartoffel-GEM eine neue Dimension der Pflanzenforschung: Die digitale Rekonstruktion erlaubt es, Szenarien durchzuspielen, die im Labor oder Feldversuch schwer umsetzbar wären – und so gezielt nach Wegen zu suchen, wie Kartoffeln und andere Nutzpflanzen gleichzeitig wachsen und sich verteidigen können.
Quelle:
Zrimec, J. et al. (2025): Evaluating plant growth–defense trade-offs by modeling the interaction between primary and secondary metabolism. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS), 7. August 2025. doi: 10.1073/pnas.2502160122.
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Titelbild: Kartoffelknollen – an ihrem Ertrag zeigt sich, wie stark Pflanzen im Zielkonflikt zwischen Wachstum und Abwehr stehen, den das neue Stoffwechselmodell detailliert nachzeichnet. (Bildquelle: © Sylvia Breslin, Science and Advice for Scottish Agriculture / Wikimedia Commons, Open Government License 3)