EU-Gentechnikrecht

Nationalisierung der GVO-Anbauentscheidungen: „Der Schwarze Peter wird den Mitgliedsstaaten zugeschoben.“

Die EU-Kommission führte im Juli 2010 neue Leitlinien für nationale Koexistenzmaßnahmen ein. Die Mitgliedsstaaten sollen auf dieser Grundlage die Möglichkeit erhalten, eigenständig den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen einzuschränken oder zu verbieten, um zufällige GVO-Spuren in anderen Produkten zu verhindern. Zukünftig sollen nationale Anbauverbote durch eine Änderung der EU-Freisetzungsrichtlinie einfacher und in einem noch weitergehenden Umfang ermöglicht werden. BioSicherheit sprach mit Prof. Dr. Hans-Georg Dederer von der Juristischen Fakultät der Universität Passau über den Gestaltungsspielraum der Mitgliedsstaaten und dessen Grenzen.

Prof. Hans-Georg Dederer, Universität Passau

Prof. Dr. Hans-Georg Dederer (Juristischen Fakultät der Universität Passau) hat zum Thema GVO-freie Zonen und sozioökonomische Kriterien für die GVO-Zulassung ein Gutachten für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) erstellt hat.

Nationale Anbauverbote: wie begründen?

Um die politische Blockade bei der Zulassung von gentechnisch veränderten Pflanzen in der EU zu überwinden, will die EU-Kommission der Mitgliedsstaaten das Recht einräumen, auf nationaler Ebene frei über den Anbau von gv-Pflanzen entscheiden zu können. Bisher ist unklar, wie nationale Verbote rechtlich begründet werden könnten. Bedenken an der wissenschaftlichen Sicherheitsbewertung kommen grundsätzlich nicht in Frage, da alle Aspekte des Umwelt und Gesundheitsschutzes einer gv-Pflanzen weiterhin im Rahmen des EU-weiten Zulassungsverfahrens geprüft werden. Häufig werden „kulturelle“ oder „sozioökonomische“ Kriterien als mögliche Begründungen für nationale Anbauverbote genannt.

bioSicherheit: Die Kommission will den Mitgliedsstaaten mit einer „Nationalisierung“ der GVO-Anbauentscheidungen mehr Freiheit geben. Wie soll dies möglich sein?

Hans-Georg Dederer: Die Kommission verfolgt zwei Wege. Zum einen lockert sie mit sofortiger Wirkung einfach ihre Leitlinien zur Koexistenz, die bisher allenfalls in engen Ausnahmefällen GVO-freie Zonen erlaubten. Zum anderen möchte die Kommission eine neue Öffnungsklausel in die Freisetzungsrichtlinie 2001/18/EG einführen, die dann den Mitgliedsstaaten volle Flexibilität und fast unbegrenzten Spielraum für die Einrichtung GVO-freier Zonen bieten soll.

bioSicherheit: Widerspricht sich die Kommission denn nicht selbst mit der Lockerung der Koexistenz-Leitlinien? Denn an anderer Stelle definiert sie ja, dass „Koexistenz bedeutet, dass die Landwirte eine echte Wahl zwischen konventionellen, ökologischen oder gv-Produktionssystemen haben.“ Bei einem Anbauverbot haben sie diese Wahl ja nicht mehr.

Hans-Georg Dederer: In der Tat ändert die Kommission an entscheidender Stelle die Koexistenz-Leitlinien, indem sie das Prinzip einer Balance zwischen den drei Produktionslinien – gentechnisch, konventionell und ökologisch – letztlich aufgibt. Die Gewichte werden einseitig zulasten des GVO-Anbaus verschoben. Ob das „Koexistenz“ im eigentlichen Sinne des Wortes ist, darf schon bezweifelt werden. Allerdings gibt die Kommission mit ihren Leitlinien ja nur einen rechtlich unverbindlichen Hinweis, wie Koexistenz im Sinn der Freisetzungsrichtlinie aussehen darf. Das letzte Wort, ob es sich tatsächlich um „Koexistenz“ im Sinn der Richtlinie 2001/18/EG handelt, hätte im Streitfall der Europäische Gerichtshof (EuGH).

bioSicherheit: Folgt man dem zweiten Weg der Kommission, dann soll in Zukunft der Anbau von GVO einfach verboten werden können, unabhängig von den Koexistenz-Leitlinien. Auch wenn dies im Vorschlag der Kommission nicht explizit genannt wird, so werden als Begründung oftmals sozioökonomische Argumente angeführt. Welche sind diese?

Hans-Georg Dederer: Abgesehen von Koexistenz-Argumenten - wie Wahlfreiheit der Landwirte - sind dies etwa der Schutz einer kleinbetrieblichen landwirtschaftlichen Struktur oder bestimmte Aspekte des Verbraucherschutzes, wobei man unter letzteren z.B. auch die Berücksichtigung ethischer oder religiöser Bedenken gegen GVO fassen könnte.

bioSicherheit: Aber es scheint, diesen Argumenten sind auch Grenzen gesetzt, denn in der Pressemitteilung zu ihrem neuen Vorschlag schreibt die Kommission explizit: „Die Mitgliedsstaaten werden auch die allgemeinen Grundsätze der Verträge und des Binnenmarktes einhalten und den internationalen Verpflichtungen der EU nachkommen müssen.“ Was sind denn diese allgemeinen Grundsätze?

Hans-Georg Dederer: Ja, die Kommission kann die Mitgliedsstaaten natürlich nicht von ihren unions- und völkerrechtlichen Verpflichtungen entbinden, weder von der Warenverkehrsfreiheit noch von den Grundrechten noch vom Welthandelsrecht. Hier stellen sich auch die entscheidenden Fragen, denn wenn ein Staat beispielsweise eine GVO-freie Zone schafft, dann wird z.B. gv-Saatgut nicht mehr abgenommen und hat deshalb keinen Zugang zum Markt. Der EuGH hat Absatz hemmende Nutzungsverbote bzw. -beschränkungen als klare Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit aufgefasst.

bioSicherheit: Lässt sich eine solche Einschränkung denn nicht rechtfertigen?

Hans-Georg Dederer: Hier bestehen schon Zweifel, denn der Umwelt- und Gesundheitsschutz wird ja bereits im Rahmen der GVO-Zulassung und der bestehenden Schutzklauseln umfassend berücksichtigt. Sie scheiden als Rechtfertigungsgründe aus. Damit bleiben nur bestimmte andere Gründe übrig – und da ist die Frage, ob die überhaupt rechtlich tragen. Der EuGH hat immer betont, dass rein wirtschaftliche Gründe einen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit nicht rechtfertigen. Denn diese sind typischerweise protektionistisch. Der Schutz einer kleinbetrieblichen Struktur der Landwirtschaft ist für sich genommen so ein rein wirtschaftlicher Grund, der mit Sicherheit nicht tragen wird.

bioSicherheit: Was die Kommission auch sagte ist, dass sie mit ihrem Vorschlag den gesellschaftlichen „Bedenken“ hinsichtlich GVO Rechnung tragen möchte. Inwiefern kann das denn eine Rechtfertigung sein?

Hans-Georg Dederer: Ich kann mir nicht vorstellen, dass der EuGH solche bloßen „Bedenken“ ohne nähere Substanziierung durchgehen lassen würde. Und substanziiert werden sie in erster Linie eben nur durch Gesundheits- oder Umweltschutzgründe, welche jedoch bereits bei der Zulassung eines GVO abgeklärt werden. Natürlich kann auch auf gesellschaftliche Bedenken Rücksicht genommen werden. Aber es gibt eine Entscheidung des EuGH – zur Gentechnik –, in der er ethische oder religiöse Argumente für ein nationales gv-Saatgutverbot ohne nähere, tragfähige Begründung seitens des Mitgliedstaates nicht akzeptiert hat. Ähnlich lässt der EuGH auch nicht gelten, dass es in der Bevölkerung zu „Unruhen“ kommen könnte. Das darf einen Mitgliedsstaat nicht hindern, EU-Recht konsequent umzusetzen. Da ist der EuGH ganz eindeutig.

bioSicherheit: Vom rechtlichen Standpunkt kann es also doch Gründe geben, die ein Anbauverbot rechtfertigen?

Hans-Georg Dederer: Am Ende entscheiden nicht allein die Gründe, sondern ihr Gewicht. Etwaige Gründe können für sich genommen schon legitim sein, aber die Frage ist: Sind sie gewichtig genug, um das Maß der Einschränkung zu rechtfertigen? D.h. es muss auch die Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Deshalb stellt sich die Frage, ob wirklich ein gerechter Ausgleich zwischen den einander gegenüberstehenden Positionen gegeben ist. Und insoweit kann davon ausgegangen werden, dass bestimmte sozioökonomische Gründe – ihre prinzipielle Legitimität vorausgesetzt – nicht gewichtig genug sind, um weitgehende Einschränkungen zu rechtfertigen. Es gibt zudem andere Einschränkungsmöglichkeiten, die diesen Gründen ebenso angemessen Rechnung tragen. Deshalb wird ein undifferenziertes GVO-Anbauverbot wohl scheitern.

bioSicherheit: Welche anderen Einschränkungsmöglichkeiten meinen Sie?

Hans-Georg Dederer: Die Mittel, um dem Koexistenz- oder Akzeptanzproblem zu begegnen, müssen verhältnismäßig sein, d.h. jeder muss z.B. zum Zweck der Koexistenz gewisse Einschränkungen hinnehmen: Wer keine Gentechnik will, muss Toleranzen von geringfügigen GVO-Spuren hinnehmen, und der GVO-Landwirt muss bestimmte betriebsführungsbezogene Maßnahmen, so genannte Best Practices, umsetzen – etwa Mantelsaaten oder Abstandsflächen – ,die alle auch Geld kosten. Solche beiderseitigen Einschränkungen schaffen Verhältnismäßigkeit, und der EuGH wird darauf zu achten haben, ob ein gerechter, für alle Seiten schonender Ausgleich erreicht wird. In Bezug auf die Akzeptanz ist anstelle eines Anbauverbots eher an Kennzeichnungen oder Schwellenwerte zu denken sowie an Maßnahmen zu deren Einhaltung.

bioSicherheit: Was sind denn die Positionen und Rechte, die – sozusagen auf der „anderen“ Seite – ausgeglichen werden müssen?

Hans-Georg Dederer: Da spielt zunächst wiederum die Warenverkehrsfreiheit eine Rolle, die auch eine individuelle Freiheit ist, auf die sich der Einzelne berufen kann. Doch hinzukommen die Grundrechte (auch) auf nationaler Ebene, etwa die Berufsfreiheit und Eigentumsfreiheit der Landwirte und Saatgutproduzenten, aber auch die Freiheit der Konsumenten, sich für oder gegen bestimmte Produkte entscheiden zu können.

bioSicherheit: Was geschieht denn nun, wenn ein Land sich zur GVO-freien Zone erklärt?

Hans-Georg Dederer: Das läuft sehr wahrscheinlich der Warenverkehrsfreiheit zuwider, die im Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) niedergelegt ist, aber auch den Grundrechten und dem Welthandelsrecht. Soweit es z.B. um einen Verstoß gegen den AEUV geht, wäre gerade die Kommission selbst berufen, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Die andere Möglichkeit ist, dass sich auf nationaler Ebene Kläger finden, die die entsprechende Rechtslage von Gerichten des jeweiligen Mitgliedsstaates prüfen lassen wollen. Die Gerichte könnten wiederum die die Europarechtskonformität betreffenden Fragen dem EuGH vorlegen. Der Schwarze Peter wird mit den geplanten Neuregelungen genau genommen den Mitgliedsstaaten zugeschoben, denn die Kommission überlässt diesen die Ausgestaltung der GVO-Anbauverbote und -beschränkungen – und damit das volle Risiko der Europarechtskonformität.

bioSicherheit: In welchen Fällen könnten Mitgliedsstaaten dann überhaupt GVO-freie Zonen einrichten?

Hans-Georg Dederer: Ein Grund könnte die Saatgutproduktion sein, denn die muss ja ohnehin in besonderer Weise „rein“ gehalten werden. Dort gibt es deshalb auch heute schon entsprechende Praktiken, etwa geschlossene Anbaugebiete, wo bestimmte z.B. in das Saatgut einkreuzende Pflanzen nicht angebaut werden dürfen. Daher wird man sagen können, dass zum Schutz der Herstellung konventionellen oder ökologischen Saatguts ausgewiesene GVO-freie Zonen vorgesehen werden können – aber das immer nur GVO-spezifisch! Die Einrichtung geschlossener Anbaugebiete heißt ja nicht, dass dann dort alle GVO verboten sind, sondern nur die, die in das Saatgut einkreuzen könnten. Aber Zonen, die den Anbau jeglicher GVO ausschließen und die sich womöglich auf das ganze Staatsgebiet erstrecken, das halte ich für rechtlich unmöglich. Das ist weder „Koexistenz“, noch ist es sonst rechtlich haltbar, jedenfalls unter grundrechtlichen, grundfreiheitlichen sowie welthandelsrechtlichen Gesichtspunkten, weil totale GVO-Freiheit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht genügt.

bioSicherheit: Der tatsächliche Spielraum der Mitgliedsstaaten für Anbauverbote könnte also erst in ein paar Jahren nach entsprechenden Entscheidungen des EuGH rechtlich abgesteckt sein?

Hans-Georg Dederer: Insofern kommt es natürlich darauf an, wie weitgehend der EuGH entscheidet. Der EuGH tendiert aber nicht so sehr zu Grundsatzentscheidungen wie z.B. das Bundesverfassungsgericht, sondern er hält sich gerne an den Fall bzw. an die ihm von den nationalen Gerichten vorgelegten Fragen. Man kann also damit rechnen, dass sich möglicherweise erst nach vielen Jahren und mehreren Verfahren ein Bild dessen ergibt, was der EuGH im Fall GVO-freier Zonen für rechtmäßig hält und was nicht.

bioSicherheit: Aber so oder so ist Ihre Einschätzung, dass wissenschaftlich nicht fundierte Totalverbote aufgrund sozioökonomischer oder kultureller Gründe – wie sie derzeit in der Diskussion stehen – rechtlich nicht haltbar sein werden?

Hans-Georg Dederer: Genau, das wäre meine Einschätzung als Jurist. Da sind die Grenzen durch Grundrechte, Grundfreiheiten und Welthandelsrecht gezogen – die jeweils auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung hinauslaufen. Danach sind einseitige „Nulltoleranzlösungen“ eigentlich schon dem ersten Anschein nach nicht verhältnismäßig.