Der Schritt zum Mehrzeller
Zellgruppen erleichtern Grünalgen das Überleben
Unter welchen Bedingungen mehrzelliges Leben entstanden ist, ist eine der spannendsten Fragen der Evolution. Am Beispiel einer einzelligen Grünalge zeigt sich nun, wie sich dieser Organismus durch Bildung von Zellgruppen vor Fressfeinden schützt.
Algen gehören zum Reich der Pflanzen, doch im Gegensatz zu den höheren Pflanzen sind sie oft nur Einzeller. An ihnen erforschen Wissenschaftler:innen, wie mehrzelliges Leben entstanden sein könnte – ein Ereignis, das nur etwa 25 bis 30 Mal in der Geschichte unseres Planeten aufgetreten ist und Millionen Jahre der Evolution erfordert hat. Welche Rolle dabei Fressfeinde gespielt haben könnten und wie mehrzellige Organismen ihre Fortpflanzungsmechanismen grundlegend geändert haben, hat nun ein deutsches Forschungsteam bei der Grünalge Chlamydomonas reinhardtii näher untersucht.
Gemeinsam sind sie schwerer zu fressen
Bislang war bekannt, dass einige Klone von C. reinhardtii nach der Zellteilung aneinander haften bleiben – die genauen Umstände blieben jedoch unklar. Ein oft beobachteter Zusammenhang war die Gegenwart einzelliger Fressfeinde. Für zehn Zelllinien der Mikroalge hat das Team nun untersucht, wie sich die Algen in Gegenwart des räuberischen Wappen-Rädertiers Brachionus calyciflorus über 500 Generationen entwickeln.
Einige Hypothesen hat das Forscherteam im Vorfeld dazu aufgestellt: Zellgruppen der Mikroalge erschweren es den Rädertierchen Beute zu machen und werden daher seltener bejagt – ein klarer Überlebensvorteil. Gleichzeitig sinkt für Algenzellgruppen die Verfügbarkeit von Nahrungsressourcen, Sonnenlicht und die Beweglichkeit, was wiederum Wachstum und Fortpflanzung behindert.
Die Evolutionsforschung geht davon aus, dass ein hoher Überlebensvorteil durch Mehrzelligkeit vorhanden sein muss, um Nachteile bei der Fortpflanzung zu kompensieren. Wahrscheinlicher ist die Entwicklung zur Mehrzelligkeit, wenn sich ein zunächst hoher Reproduktionsnachteil dann sogar noch in einen Reproduktionsvorteil wandelt, also eine Differenzierung innerhalb der Zellgruppen in spezialisierte Soma- und Keimzellen. Dieser letzte Aspekt ist jedoch nicht mehr Gegenstand dieser Forschungsarbeit.
Überleben vs. Fortpflanzung
Im Versuch bestätigte sich, dass jene Algen, die vom Rädertierchen bejagt wurden, sich häufiger zu Zellgruppen anordneten – 49 von 97 Algenklonen im Vergleich zu nur 15 von 112 nicht bejagten Klonen. Alle zehn isogenen Linien bildeten unter Bejagung Gruppen, sechs dieser Linien lebten ohne Bejagung ausschließlich einzeln. Weiterhin zeigte sich, dass Zellgruppen weniger bejagt wurden und dies auch zu einem langsameren Wachstum der Rädertierchen führte.
Allerdings sank bei den mehrzelligen Algenkolonien – ebenfalls erwartungsgemäß – auch die Wachstumsrate gegenüber den einzeln lebenden Mikroalgen. Einzelzellen und Kolonien zeigten somit eine sogenannten konvexen Trade-off zwischen Überleben und Reproduktion (abgeleitet von der Form der Diagrammkurve), der jedoch bei Zellgruppen deutlich stärker ausgeprägt war.
Für eine gegebene Überlebensrate hatten Einzelzellen somit eine höhere Fortpflanzungsrate, während Zellgruppen für eine gegebene Fortpflanzungsrate die höhere Überlebensrate aufwiesen. Im Vergleich innerhalb der nicht bejagten Kontrollgruppe zeigte sich kein signifikanter Trade-off-Unterschied zwischen Einzelzellen und Zellgruppen.
Darüber hinaus beobachteten die Forscher:innen, dass Zellen in Gruppen weniger beweglich waren und unbewegliche Zellen bei gleicher Überlebensrate eine schwächere Reproduktion aufwiesen – auch das ein im Vorfeld vermuteter Nachteil der Gruppenbildung.
Gleiche Mutationen bei gruppierten Zellen
Um die genetischen Grundlagen der beobachteten Phänotypen zu untersuchen, verglichen die Fachleute mittels RNA-seq die Genexpressionsmuster unbejagter Einzelzellen und bejagter Zellkolonien. Dazu wurden die Isolate gemeinsam entweder mit Rädertierchen, mit limitierter Stickstoffversorgung oder ohne Stressfaktoren kultiviert.
Unabhängig von den Kultivierungsbedingungen fanden die Forscher:innen in den mehrzelligen Algen 57 hochregulierte und 19 herunterregulierte Gene. Wie diese angepassten Genaktivitäten mit der Mehrzelligkeit in Zusammenhang stehen, wurde in der Studie noch nicht weiter untersucht. Zahlreiche Gene waren zudem im zeitlichen Verlauf des Lebenszyklus unterschiedlich aktiv, vor allem im Vorfeld der Entstehung der Zellgruppen.
Inwieweit diese Veränderungen genetischer oder epigenetischer Natur waren, konnten die Forscher:innen nicht sicher klären. Sie konnten aber die Menge der Punktmutationen gegenüber dem Referenzgenom ermitteln. 181 solcher Punktmutationen fanden sich nur in gruppierten Zellen, 83 Mutationen lediglich in Einzelzellen.
Diese hohe Anzahl gemeinsamer Mutationen innerhalb der gruppierten Zellen deutet auf einen Fitnessvorteil dieser Mutationen hin. 24 der Mutationen in gruppierten Zellen führen zu einer veränderten Aminosäure-Sequenz der korrelierenden Proteine, bei den Einzelzellen waren dies zwölf Mutationen. Bei den gruppierten Zellen betrafen fünf der 24 Veränderungen das Gen DUF3707, ein extrazelluläres Matrix-Glykoprotein aus der Familie der Pherophorine, von denen man vermutet, dass sie eine wichtige Rolle beim Übergang zur Mehrzelligkeit gespielt haben.
Genetische Anpassung an das Gruppen-Leben
Weitere Mutationen beeinflussten andere Glykoproteine, an der Ausscheidung überflüssiger Stoffwechselprodukte beteiligte Proteine sowie regulatorische Gene der extrazellulären Matrixproteine. All das deutet darauf hin, dass diese Veränderungen das Leben in Zellgruppen erleichtern, nicht zuletzt in Form synchronisierter Aktivitäten. Darüber hinaus waren Gene der Nährstoffaufnahme, der Cytosol-Viskosität und der Antwort auf CO2-Stress betroffen – wohl als Antwort auf die neuen „Probleme“, in einer Gruppe zu wachsen.
Die Forscher:innen vermuten, dass es die extrazelluläre Matrix ist, die die Zellen der Gruppen nach der Teilung zusammenhält. Unter dem Strich bestätigt sich mit dieser Studie jedenfalls die Hypothese, dass der Zusammenschluss zu Zellgruppen einen Überlebensvorteil mit zunächst klarem Fortpflanzungsnachteil darstellt – genau das Szenario, das mutmaßlich zu erstem mehrzelligem Leben geführt haben könnte.
Quelle:
Bernardes, J. P. et al. (2021): The evolution of convex trade-offs enables the transition towards multicellularity. In: Nature Communications, 12:4222, (9. Juli 2021), doi: 10.1038/s41467-021-24503-z.
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Titelbild: Grünalge Chlamydomonas reinhardtii, die auf festem Medium wächst. Für die experimentelle Evolutionsstudie wurden 10 verschiedene Stämme von Chlamydomonas reinhardtii verwendet, die sechs Monate lang in Flüssigkulturen mit und ohne Räuber gewachsen sind, bevor sie auf evolutionäre Veränderungen getestet wurden. (Bildquelle: © Universität Konstanz, AG Becks)