Ein Forscher vermisst die Pflanze
Interview mit Professor Dr. Ulrich Schurr
Professor Dr. Ulrich Schurr ist Leiter des Instituts für Pflanzenwissenschaften im Forschungszentrum Jülich und Koordinator des aktuell gestarteten deutschen Phänotypisierungs-Netzwerkes DPPN. In dem Interview mit Pflanzenforschung.de erzählt er, warum „Phänotypisierung“ zu den neuen Schlüsseltechnologien in der Pflanzenforschung gehört.
Pflanzenforschung.de: Phänotypisierung heißt im Grunde, den Phänotyp von Pflanzen detailliert zu vermessen und quantitativ zu erfassen. Warum sehen viele in dieser Disziplin den „Bottleneck der Genomforschung“?
Prof. Dr. Ulrich Schurr: Bei der Phänotypisierung geht es unter anderem darum, das Wissen über molekularbiologische Prozesse in die Praxis umzusetzen. In der Praxis auf dem Feld entsteht die Pflanze ja durch die Interaktion des Genoms, also dem Werkzeugkasten der Pflanze, und der konkreten Umwelt. Der Phänotyp ist also letztendlich was aus der Kopplung von Genotyp und Umwelt entsteht. Um überhaupt verstehen zu können, wie Erbgut und Umwelt zusammenwirken und Pflanzen mit gewünschten Eigenschaften hervorbringen, müssen wir Pflanzenmerkmale so detailliert wie möglich analysieren können.
Pflanzenforschung.de: Sie haben die Phänotypisierung in Deutschland maßgeblich vorangetrieben. Wann ist Ihnen zum ersten Mal bewusst geworden, dass die Pflanzenforschung in Deutschland einen neuen Forschungszweig braucht?
Prof. Dr. Ulrich Schurr: Es war schon vor Jahren absehbar, dass nach den großen Fortschritten in den molekularen Wissenschaften eine Phase der Synthese in die gesamte Pflanze oder auch auf den Bestand kommen musste. Am Ende liegt die Wahrheit auf dem Feld, wo die Pflanze ihre Leistungsfähigkeit in der Interaktion mit der dynamischen Umwelt unter Beweis stellen muss.
Es war also klar, dass wir klassische ökophysiologische Ansätze in den Kontext moderner molekularer und genetischer Ergebnisse weiter entwickeln mussten. Da parallel mechanistische Genauigkeit, hoher Durchsatz und Robustheit im Feld gefragt waren, mussten neue Methoden der Sensorik, Robotik und Informationsverarbeitung integriert werden. Es war also nur eine Frage der Zeit, wann der Bedarf entstehen würde und wann die technischen Möglichkeiten bereitet waren, um das „phenotyping gap“ zu schließen.
Pflanzenforschung.de: Warum sind die derzeitigen Methoden- sogar die der modernen Molekularbiologie- dafür unzureichend?
Prof. Dr. Ulrich Schurr: Wenn es darum geht, von einer großen Anzahl von Pflanzen komplexe Struktureigenschaften zu erfassen, womöglich auch noch in 3-D und deren Veränderung in der Zeit, kommt man mit den bisherigen Messmethoden leider nicht weit. Das gilt insbesondere auch für alle Fragen zum Wachstum, der Photosynthese und dem Stofftransport in der Pflanze.
Pflanzenforschung.de: Die Phänotypisierung hat demnach die Analysemethoden in der Pflanzenforschung revolutioniert?
Prof. Dr. Ulrich Schurr: Die Revolution hat gerade erst mal begonnen. Durch die nicht-invasiven Methoden der Phänotypisierung öffnen wir ganz neue Fenster, durch die wir den Zugang zu quantitativen Daten erhalten. Diese neuen Fenster betreffen nicht nur den akuten Status der Pflanze. Wir können sogar Merkmale erfassen, die sich mit der Zeit ändern.
Wachstum ist durch die Veränderung von Biomasse pro Zeit definiert. Wenn wir dafür jedes Mal, die Pflanze „schlachten“ müssen, um die Biomasse zu messen, ist die Trendschärfe zwischen verschiedenen Merkmalen denkbar schlechter, als wenn ich dynamische Daten zur Verfügung habe. Wir sind immer wieder überrascht, wenn wir Zeitrafferaufnahmen von Pflanzen machen, welche Dynamik in Pflanzen steckt, die wir für gewöhnlich gar nicht wahrnehmen.
Pflanzenforschung.de: Wie muss man sich diese Analysen konkret vorstellen?
Prof. Dr. Ulrich Schurr: Wir benutzen im Prinzip Methoden, die teilweise schon in anderen Bereichen entwickelt wurden und adaptieren diese auf Pflanzen. Dazu gehören Highend-Methoden, die in der Medizin inzwischen Gang und Gebe sind, wie beispielsweise die Magnetresonanztomographie. Diese Methoden müssen aber speziell angepasst werden. Zum Beispiel mussten diese Maschinen für die Pflanzenforschung vertikal, statt horizontal entwickelt werden. Pflanzen mögen es schließlich nicht, wenn Sie liegen müssen.
Eine weitere medizinische Methode, mit der wir mittlerweile Pflanzen untersuchen, ist die Positronen-Emissions-Tomographie (PET), mit der die Verteilung radioaktiv-markierter Substanzen verfolgt werden kann. Mit dieser Technik erforschen wir derzeit die Dynamik des Kohlenstofftransports und können so live verfolgen, wie die Pflanze arbeitet und wie sie auf die Umwelt reagiert.
Pflanzenforschung.de: Können die Medizin und andere Forschungsbereiche umgekehrt auch von den neuen Methoden der Phänotypisierung profitieren?
Prof. Dr. Ulrich Schurr: Das Knowhow wird durchaus auch aus der Pflanzenforschung in andere Wissensbereiche hineingetragen. Beispielsweise arbeiten wir derzeit an tragbaren MRs. Diese haben den großen Vorteil, dass wir sie zu einer Pflanze, die im Boden fest verwurzelt ist, hinbringen können. Solche Methoden können wir dann auch wieder anderen Forschungsbereichen zur Verfügung stellen.
Pflanzenforschung.de: Wie ist es möglich, molekulare und anatomische Veränderungen gleichzeitig zu erfassen?
Prof. Dr. Ulrich Schurr: Die Phänotypisierungsforschung versucht natürlich die nicht-invasiven Verfahren mit molekularbiologischen und genetischen Daten zu koppeln. Das ist allerdings kein einfaches Unterfangen, weil verschiedene Prozesse ganz unterschiedlichen Zeitskalen unterworfen sind.
Wenn ich beispielsweise die Photosynthese im Blatt anschaue, dann habe ich Prozesse in der Elektronentransportkette, die im Millisekundenbereich ablaufen. Die biochemische Umsetzungen laufen dagegen vielleicht in einem Zeitraum von Sekunden- und Minuten ab; oder sogar im 24 Stundentakt, wie etwa beim im Stärkemetabolismus. Wie diese Kopplungsfaktoren zwischen diesen verschiedenen Zeitskalen funktionieren ist sehr spannend. Alle Daten einfach in eine Datenbank einzuspeisen, in der Hoffnung ein Muster zu erkennen, wäre jedoch keine Lösung, weil man dazu alle Kopplungsfaktoren verstehen müsste.
Pflanzenforschung.de: Liegt darin die größte Herausforderung? Realistische Pflanzenmodelle zu entwickeln?
Prof. Dr. Ulrich Schurr: Die Datenspeicherung und die richtige Extraktion von Daten ist eine der größten Herausforderungen für unsere Forschungsdisziplin. Wir produzieren exorbitante Datenmengen.
Gerade mit den neuen Hochgeschwindigkeitskameras die 3-D oder sogar 4-D Bilder aufnehmen produzieren wir innerhalb von Sekunden Terabytes. Der nächste Schritt wäre daraus physiologische Modelle zu entwickeln, um diese Daten zu interpretieren. Ein Dilemma der Phänotypisierung ist außerdem, dass wir einerseits sehr detailliert Merkmalsveränderungen in der Pflanze messen müssen. Die Genomforschung und die Pflanzenzucht verlangt jedoch gleichzeitig, dass wir einen besonders hohen Durchsatz produzieren.
Pflanzenforschung.de: Zum Stichwort Hochdurchsatz-Phänotypisierung. Gibt es schon auf Robotik basierende Systeme in der Industrie, die tausende von Pflänzchen gleichzeitig messen können?
Prof. Dr. Ulrich Schurr: Es gibt einzelne Anlagen in der Pflanzen produzierenden Industrie. Da stecken allerdings- zumindest aus akademischer Sicht- relativ langweilige Sensoren drin, meistens Farbkameras, die Bilder machen während Pflanzen in hohem Durchsatz über Laufbänder transportiert werden. Im akademischen Bereiche gibt es auch schon einige Hochdurchsatz-Systeme, allerdings haben wir noch einen hohen Nachholbedarf für die Fragen, die wirklich relevant sind.
Pflanzenforschung.de: Sind die zufrieden mit der Entwicklung ihres Forschungsbereiches in Deutschland, hat sich „Phenotyping“ in der Pflanzenforschung als eigene Disziplin durchgesetzt?
Prof. Dr. Ulrich Schurr: Auf der Geräte- und Infrastrukturseite haben wir in Deutschland sehr gute Voraussetzungen. Durch das aktuell gestartet Phänotypiserungsnetzwerk wird in Deutschland eine Plattform für die Phänotypisierungs-Community entstehen, die uns weltweit an der Spitze hält. Die Resonanz in der Pflanzenforschung und bei den Züchtern ist gut und die Bereitschaft der anderen Disziplinen zusammenzuarbeiten ist hoch.
Wo es jedoch noch mangelt sind gut ausgebildete Nachwuchswissenschaftler in diesem Bereich. Wir haben schon lange keine physiologische Ausbildung mehr gemacht und wir brauchen Leute, die darüber hinaus auch eine große Affinität zu Technik haben und über den Tellerrand hinausschauen, um mit Physikern und Chemikern zusammenzuarbeiten.
Pflanzenforschung.de: Vielen Dank für das Gespräch.
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