Mehr als die Summe seiner Teile
Pflanzenmerkmale eignen sich nur bedingt zur Beschreibung von Ökosystemen
Lassen sich anhand von Pflanzenmerkmalen Ökosystemsystemfunktionen quantifizieren? Forscher haben die Möglichkeiten und Grenzen solcher Modelle in einer Langzeitstudie untersucht.
Auf unserer Erde existieren über 350.000 Gefäßpflanzenarten, die sich in ihren Eigenschaften stark voneinander unterscheiden. Eine Schlüsselherausforderung für den Umweltschutz ist es vorhersagen zu können, wie natürliche oder anthropogen bedingte Veränderungen wichtige Eigenschaften auf Ökosystemebene wie die Produktion von Biomasse oder die Kohlenstoffspeicherung beeinflussen.
Dazu braucht es geeignete Werkzeuge. Pflanzen und ihre unterschiedlichen Merkmale können die Vorgänge in einem Ökosystem abbilden und sind daher die erste Wahl bei der Beschreibung von Ökosystemfunktionen. In einer neuen Studie haben ForscherInnen u. a. des Institutes für Biologie der Universität Leipzig, des Deutschen Zentrums für Integrative Biodiversitätsforschung in Leipzig (iDiv) und des Lehrstuhls für Terrestrische Ökologie der Technischen Universität München (TUM) untersucht, wie gut das wirklich klappt.
Der Zusammenhang von Ökosystemfunktionen und Pflanzeneigenschaften
Pflanzenmerkmale wie Blattgröße, Pflanzenhöhe oder Wurzellänge zeigen die Anpassung der Pflanze an ihren Lebensraum und spiegeln so die an diesem Ort vorherrschenden biotischen und abiotischen Verhältnisse wider. Erfasst man die Pflanzeneigenschaften diverser Arten, erhält man einen Überblick über die aktuelle Funktionalität von Ökosystemen sowie deren Fähigkeit zur Anpassung an sich verändernde Umweltparameter. So könnten auch mögliche Veränderungen vorhergesagt werden, wie viele Studien nahe legen.
Ob das aber wirklich so zutrifft, untersuchten ForscherInnen jetzt in einer Langzeitstudie. Dazu werteten sie zunächst in einem Review die 100 neuesten Studien zum Thema aus. Dabei zeigte sich, dass in den allermeisten Studien in der Regel nicht mehr als sechs verschiedene Pflanzeneigenschaften untersucht wurden. Die Studien dauerten meist auch nur ein Jahr.
Langzeit-Untersuchungen im Grasland
Die ForscherInnen vermuteten daher, dass diese Studien möglicherweise nicht ausreichend viele Parameter erfasst haben. Denn Ökosysteme sind in stetigem Wandel begriffen. Ihre Artenzusammensetzung ändert sich ebenso im Laufe der Zeit wie die einzelnen Pflanzenmerkmale sich in Abhängigkeit von abiotischen Faktoren wie der Witterung verändern.
Daher untersuchten sie diese Zusammenhänge in einem Langzeitexperiment. Sie legten für ihre Versuche 78 Parzellen an, die im Sommer 2002 mit verschiedenen Mischungen von 60 heimischen Graslandarten (Klasse: Molinio-Arrhenatheretea) eingesät wurden, so dass jede Parzelle eine einzigartige Kombination von Pflanzenarten enthielt.
Über einen Zeitraum von zehn Jahren (2003 - 2012) wurden 41 verschiedene Pflanzenmerkmale der verschiedenen Arten erfasst. Dazu gehören beispielsweise die spezifische Blattfläche, Blatt- und Wurzelnährstoffkonzentrationen, Pflanzenhöhe, Samenmasse, Blühdauer und Nährstoffaufnahmeeffizienz. Zusätzlich erfasste das Forschungsteam 42 verschiedene Ökosystemfunktionen wie ober- und unterirdische Pflanzenbiomasse, Bestäubungsraten, Herbivoren-Fraß, Bodenatmung und Feuchtigkeitsgehalt sowie die Kohlenstoffspeicherung.
Die Auswertung ergab, dass über einen zehn Jahre dauernden Zeitraum lediglich 12,7 Prozent der Varianz in den Ökosystemfunktionen über die Pflanzenmerkmale erklärt werden konnten. Wurde nur ein Jahr betrachtet, konnten immerhin 32,6 Prozent der Varianzen nachvollzogen werden.
Nur ein moderater Zusammenhang
Wurden die Zahl der untersuchten Pflanzenmerkmale von 41 auf sechs reduziert, konnten im Schnitt lediglich 4,8 Prozent der Varianz bei Ökosystemfunktionen erklärt werden. Dabei war es unerheblich, ob die Pflanzenmerkmale zufällig ausgewählt wurden oder ob es sich um die in bisherigen Studien am häufigsten betrachteten Merkmale handelte. Generell konnten keine „Schlüsselmerkmale“ identifiziert werden, die gleich einen Großteil der Varianz der Ökosystemfunktionen erklären können.
Die ForscherInnen berechneten zudem, dass die Betrachtung von 87 verschiedenen Pflanzenmerkmalen lediglich 15 Prozent der Ökosystemfunktionen beschreiben können. Selbst bei einer theoretisch unbegrenzten Anzahl an Pflanzenmerkmalen könnte dieser Wert nicht über 18 Prozent steigen.
Langfristige Vorhersage schwierig
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass mittels Erfassung von Pflanzenmerkmalen die langfristigen funktionellen Konsequenzen von Biodiversitätsveränderungen nicht ausreichend gut vorhergesagt werden können. Da das menschliche Wohlergehen allerdings stark von Ökosystemleistungen abhängt, appellieren die ForscherInnen an die Politik: Die sicherste Lösung sei es, alles zu tun, um die biologische Vielfalt zu erhalten und damit die Ökosystemleistungen auf für künftige Generationen zu sichern.
Quelle:
Van der Plas, F. et al. (2020): Plant traits alone are poor predictors of ecosystem properties and long-term ecosystem functioning. In: Nature Ecology and Evolution, (05. Oktober 2020), doi: 10.1038/s41559-020-01316-9.
Zum Weiterlesen:
- Jeder Hektar zählt - Atlas der Ökosystemdienstleistung veröffentlicht
- Kalt macht klein - Wie Nachttemperaturen die Blattgröße beeinflussen
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Titelbild: Artenreiche Wiesen sind wichtige Ökosysteme. (Bildquelle: © iStock.com/filmfoto)