Voll verrechnet
Habitat-Zerschneidungen verstärken den Artenverlust
Das Artensterben ist noch schlimmer als bislang angenommen. Der Grund für die Fehleinschätzungen liegt in einer stark vereinfachten Berechnungsmethode, die insbesondere die Situation in kleinen, isolierten Habitaten ignoriert.
Um die Biodiversität zu schützen und das Artensterben aufzuhalten, müssen Eingriffe in die Natur und ihre Auswirkungen im Kleinen wie im Großen so gut wie möglich abgeschätzt werden. Dazu werden Artenverluste aufgrund von Habitatzerstörungen mit bestimmten Modellen berechnet. Allerdings sind diese offenbar nicht genau genug, da sie von vereinfachten und linearen Zusammenhängen ausgehen.
Ein interdisziplinäres Forschungsteam mit Beteiligung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), der Martin-Luther-Universität Halle, des Helmholtzzentrums für Umweltforschung (UFZ), der Leuphana-Universität in Lüneburg und der Freien Universität Berlin hat in einer neuen Meta-Studie die Fehler in diesen Berechnungen aufgezeigt und einen umfassenderen Ansatz modelliert.
Lebensraumzerschneidung und Ökosystem-Verfall
Habitate sind Lebensräume, in denen eine spezifische Gesellschaft von Tier- und Pflanzenarten leben. Habitate und ihre Bewohner bilden zusammen ein Ökosystem. Werden Lebensräume voneinander abgetrennt, etwa durch Straßenbau, Rodungen oder andere Landnutzungsänderungen, spricht man von Lebensraumzerschneidung oder Habitattrennung. Sie behindert oder verhindert den genetischen Austausch zwischen den Populationen der Habitatfragmente.
Durch die Verkleinerung des Lebensraums wird es insbesondere für größere und mobile Arten schwierig zu überleben. Auch die Veränderung der Lebensbedingungen wie verstärkter Lichteinfall an den Rändern vorher geschlossener Waldgebiete können das Fortbestehen mancher Arten gefährden. Dieser Vorgang wird als Ökosystem-Verfall (Ecosystem Decay) bezeichnet und kommt umso stärker zum Tragen, je kleiner die Habitatfragmente sind.
Duell der Hypothesen
Neben den direkten und sofort sichtbaren Auswirkungen einer Habitatzerstörung wird der Ökosystem-Verfall oftmals erst später sichtbar und darum bei Berechnungen nicht berücksichtigt. Die meisten Berechnungen fußen auf der sogenannten Passive-sampling-Hypothese, also der Annahme, dass Arten bei der Verkleinerung ihres Habitats proportional zu ihrer vorherigen Verbreitung und Häufigkeit abnehmen. Dagegen geht die Ecosystem-Decay-Hypothese davon aus, dass insbesondere in kleinen Habitatinseln Vorgänge wie die Artenisolation stärker zum Tragen kommen und damit zu einem noch größeren Artenverlust führen.
Auswirkungen stärker als angenommen
Die Forscher vermuten, dass der Prozess des Ökosystem-Verfalls weiter verbreitet ist als bisher angenommen. Allerdings fehlten bisher Beweise, die diese Hypothese auch in größerem Stil untermauern können. Daher werteten die Forscher die Daten von 123 teils über 100 Jahre alten Studien aus aller Welt aus, die die Veränderung der Artenzusammensetzung in isolierten Habitaten dokumentierten. 85 Prozent dieser Daten stammten aus Untersuchungen von zerschnittenen Waldflächen, meist in den Tropen. Das Team wertete aber auch Studien aus, die zerteilte Grasländer, Savannen, Feuchtgebiete und künstlichen Inseln betrachteten.
Die Forscher berechneten mit dem Passive-Sampling-Modell unter anderem die Populationszahlen und die Verbreitung der Arten in den Habitat-Fragmenten Beim Vergleich der berechneten Werte mit den in den Studien tatsächlich beobachteten Artenverteilungen wurde deutlich: je kleiner ein Habitatfragment, desto stärker unterschätzt das Modell das Artensterben. Das beweist laut Forscher, dass die bisherigen Berechnungen zum Biodiversitätsverlust ein deutlich zu positives Bild der Situation zeichnen.
Generalisten setzen sich stärker durch
Die Forscher sammelten weitere Erkenntnisse: Seltenere und stark spezialisierte Arten verschwanden häufiger und wurden durch generalistische Arten mit einer größeren Anpassungsfähigkeit ersetzt. Dadurch wurde zumindest der Verfall des jeweiligen Ökosystems abgemildert. Diesen Effekt konnten die Forscher vor allem in Gebieten in Europa beobachten, wo die Habitat-Zerschneidung schon länger zurück lag. Auch die ein Habitat umgebende Landschaft („Matrix“) hatte einen Einfluss auf den Zustand der einzelnen Lebensräume: intensive Landwirtschaft oder Bebauung hatten negativere Auswirkungen als beispielsweise eine Umgebung aus extensiv genutzten Flächen.
Mehr Biotopvernetzung
Die Ergebnisse zeigen, dass bisherige Berechnungen den tatsächlichen Artenschwund bei Habitat-Zerschneidungen deutlich unterschätzen. Umso wichtiger ist es, die einzelnen Biotope stärker zu vernetzen und so die Überlebenschancen der dort vorkommenden Arten zu erhöhen. Das kann durch Schaffung von zusammenhängenden Biotopketten aus verschiedenen Landschaftselementen realisiert werden. Solche Landschaftselemente sind unter anderem Hecken, Sträucher, Blumenwiesen, Alleen, Fließgewässer, Grünkorridore und Grünbrücken, Raine, Trittbrettbiotope, Amphibieneinrichtungen und vieles mehr.
Quelle:
Chase, J.M. et al. (2020): Ecosystem decay exacerbates biodiversity loss with habitat loss. In: Nature, (29. Juli 2020), doi: 10.1038/s41586-020-2531-2.
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Titelbild: Luftaufnahme eines Waldstückes im brasilianischen atlantischen Regenwald, der von Zuckerrohr umgeben ist. (Bildquelle: © Mateus Dantas de Paula)