Muss alles werdende Leben durch dasselbe Nadelöhr?

11.10.2012 | von Redaktion Pflanzenforschung.de

Prof. Dr. Ivo Große (Universität Halle-Wittenberg, links) und Dr. Marcel Quint (Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie) mit einem Exemplar der Ackerschmalwand im Rechenzentrum der Uni Halle. (Foto: © Uni Halle, Maike Glöckner)

Prof. Dr. Ivo Große (Universität Halle-Wittenberg, links) und Dr. Marcel Quint (Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie) mit einem Exemplar der Ackerschmalwand im Rechenzentrum der Uni Halle. (Foto: © Uni Halle, Maike Glöckner)

Marcel Quint vom Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie (IPB) und Ivo Grosse von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) sind glücklich über ihre Entdeckung, die auf der Titelseite des weltberühmten Fachmagazins Nature veröffentlicht wurde. Die Redaktion von Pflanzenforschung.de sprach mit den beiden Wissenschaftlern, die für ihre großartigen Erkenntnisse kein einziges Laborexperiment durchführten.

Pflanzenforschung.de: Herzlichen Glückwunsch zur Titelstory bei Nature! Wie fühlt sich ein derartiger Erfolg an?

Ivo Grosse: Was uns glücklich gestimmt hat, war unsere Entdeckung. Es ist ein tolles Gefühl für einen Wissenschaftler, etwas zu sehen, was noch kein anderer Mensch zuvor gesehen hat. Dass Nature unsere Entdeckung aufgegriffen und zur Titelstory der aktuellen Ausgabe gemacht hat, setzt unserer Begeisterung das i-Tüpfelchen auf.

Marcel Quint: Die Veröffentlichung in Nature hilft uns natürlich auch, die Aufmerksamkeit der Forschergemeinde und hoffentlich auch der Öffentlichkeit auf unsere Entdeckung zu lenken.

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Die Titelseite der neuen Ausgabe von

Die Titelseite der neuen Ausgabe von "Nature" (4. Oktober 2012): Forschungsergebnis aus Halle, Cover-Design aus Halle. Abbildung: Nature (Cover-Design: © Sisters of Design)

Pflanzenforschung.de: Die Titelseite von Nature schmücken nur bahnbrechende Entdeckungen. Was ist das bahnbrechende an Ihrer Entdeckung?

Ivo Grosse: Wir haben eine historische Fragestellung aufgegriffen. In der Tierwelt ist diese Frage seit mehr als 150 Jahren von zentralem Interesse. Und die Frage, die wir untersucht haben, stellt sich vermutlich jeder Mensch. Wo komme ich her? Wie bin ich entstanden? Es geht darum, wie Leben im Einzelnen entsteht.

Marcel Quint: Jeder von uns hat eine Embryogenese durchlebt. Unsere Untersuchungen gehen auf den deutsch-baltischen Zoologen Karl Ernst von Baer zurück, der die Ähnlichkeiten von Embryonen verschiedener Wirbeltierarten entdeckt und bereits 1828 publiziert hat. Von Baer hatte bei zwei Gläsern, in denen er seine Embryonen aufbewahrte, die Beschriftungen vergessen. Als er die Embryonen den Tierarten zuordnen wollte, war ihm dies aufgrund ihrer verblüffenden Ähnlichkeit nicht möglich. Erst spätere Untersuchungen, die auch eine wesentlich weiterentwickelte Methodik nutzen konnten, waren in der Lage zu erkennen, dass sich dieses Stadium in der Mitte der Embryogenese befand, wohingegen verschiedene Wirbeltierarten sich in frühen und späten Phasen wesentlich unterschiedlicher waren.

Man beschreibt dieses Phänomen durch das Sanduhrmodell, bei dem die Phase der größten Ähnlichkeit der engsten Stelle der Sanduhr entspricht. Lange Jahre wurde die Existenz dieses Stadiums der extremen Ähnlichkeit in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Erst vor zwei Jahren konnten zwei deutsche Forschungsgruppen mit Hilfe von genetischen Studien an den tierischen Modellorganismen Fruchtfliege und Zebrafisch zeigen, dass es dieses zuvor nur morphologisch beobachtete Stadium tatsächlich gibt.

Parallel zur morphologischen Ebene entdeckten sie, dass im fraglichen Embryogenesestadium vornehmlich evolutionsgeschichtlich alte Gene exprimiert werden. Da die alten Gene seit mindestens einer Milliarde Jahre kaum noch Veränderungen unterlagen, sind sie bei allen Arten nahezu gleich. Die Embryonen gleichen sich demzufolge offenbar auch morphologisch in ihrer Form und Struktur; sie bilden eine Art Urtyp-Embryo. In frühen und späten Stadien der Embryonalentwicklung hingegen unterscheiden sich die Embryonen verschiedener Arten äußerlich klar voneinander.

Pflanzenforschung.de: Soviel zur Vorgeschichte. Wo fing Ihre Arbeit an?

Marcel Quint: Die Natur hat die Embryogenese zweimal unabhängig von einander etabliert – einmal im Tierreich und einmal im Pflanzenreich. Wir haben uns gefragt, ob das Sanduhrmodell auch für das Pflanzenreich gilt.

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Das Sanduhrmodell der embryonalen Entwicklung wurde von deutschen Forschern bei Tieren belegt. Gilt dies auch für Pflanzen?

Das Sanduhrmodell der embryonalen Entwicklung wurde von deutschen Forschern bei Tieren belegt. Gilt dies auch für Pflanzen?

Bildquelle: © Paylessimages / Fotolia.com

Ivo Grosse: Auf morphologischer Ebene gab es bisher keine Voruntersuchungen bei Pflanzen, auf die wir hätten zurückgreifen können. Morphologische Embryonalstudien sind bei Pflanzen rein methodisch sehr viel komplizierter als bei Tieren, weil die Embryonen oft tief im Fruchtknoten verborgen sind und zunächst mit Hilfe von Mikroskopie aufwändig freigelegt werden müssen. Wenn man wie bei Expressionsstudien auf bestimmte Ausgangsmengen an RNA angewiesen ist, wird das schnell zu einem Mengenproblem. Uns kamen die molekularen Studien in Zebrafisch und Furchtfliege zugute, die wir nun auch in Arabidopsis durchführen konnten. Wir erkannten, dass eine derartige Studie bei Arabidopsis aufgrund der Datenlage nun machbar ist. Wir mussten nur zwei Dinge dazu wissen: Erstens, wie alt ist jedes der ca. 28.000 Gene in Arabidopsis? Und zweitens, wie stark wird jedes dieser Gene in den verschiedenen Stadien der Embryonalentwicklung exprimiert?

Pflanzenforschung.de: Und dazu haben sie sich die genomweiten Expressionsprofile von der Zygote bis zum reifen Embryo zunutze gemacht, die kürzlich von einer kanadischen Arbeitsgruppe von Arabidopsis veröffentlicht wurden?

Ivo Grosse: Genau. Doch zunächst haben wir die 28.000 Gene der Ackerschmalwand auf ihr evolutionäres Alter hin untersucht. Rund 11.000 Gene haben wir als evolutionär alt eingestuft. Sie entstanden vor bis zu 3,7 Milliarden Jahren, bevor sich die belebte Welt in Pflanzen, Pilze und Tiere trennte. Alle anderen Gene sind evolutionär jünger. Insgesamt haben wir 13 verschiedene evolutionäre Altersabstufungen festgelegt, denen wir die 28.000 Gene von Arabidopsis zugeordnet haben. Dafür haben wir alle Gensequenzen mit dem kompletten Gensatz von jeweils 1.500 anderen Pflanzen-, Algen-, Bakterien-, Pilz- und Tierarten verglichen, die glücklicherweise in Datenbanken der Scientific Community frei verfügbar waren. Insgesamt ergaben sich daraus hunderte Millionen von Sequenzvergleichen, für die sogar unser extrem leistungsfähiger Großrechner eine Woche benötigte.

Marcel Quint: Nach dieser Einteilung in jung und alt haben wir die Genaktivitäten aller 28.000 Gene der Ackerschmalwand in frühen, mittleren und späten Embryonalstadien untersucht. Unser Ergebnis: Im mittleren Stadium - nach der Form des Embryos als Torpedostadium bezeichnet – werden die evolutionär jungen Gene gezielt deaktiviert und in späteren Phasen wieder angeschaltet. Die alten Gene bleiben hingegen in allen Phasen der pflanzlichen Embryogenese gleichermaßen aktiv. Hier haben wir das Sanduhrmodell aus den Untersuchungen an tierischen Embryonen wieder gefunden – und waren fasziniert! Damit hatten wir nämlich gar nicht gerechnet.

Das hängt unter anderem mit den unterschiedlichen Entwicklungsgraden, die Tiere und Pflanzen am Ende der Embryogenese erreicht haben, zusammen. Hat ein tierischer Organismus die Embryogenese durchlaufen, ist der Organismus praktisch fertig. Bei Pflanzen ist das anders.

Eine Pflanze am Ende der Embryogenese besteht lediglich aus Keimblättern, einer Vorform des Stängels und zwei Meristemen (pflanzliche Stammzellen) an jeweils einem Ende dieses Stängels. Alle anderen lebenswichtigen Organe wie Wurzeln, Blätter und Blüten entwickeln sich z.T. erst lange nach der Keimung aus diesen beiden Meristemen und werden somit erst post-embryonal ausgebildet. D.h. zusammengefasst, dass Tiere bei der Geburt viel weiter entwickelt sind als Pflanzen. Deshalb waren wir auch so verwundert, dass wir trotzdem dasselbe Sanduhrmuster wie bei der tierischen Embryogenese vorgefunden haben.

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Nach der Embryogenese ist die Pflanze noch lange nicht fertig entwickelt. Es folgt, anders als bei Tieren, ein Prozess, bei dem post-embryonal wichtige Organe ausgebildet werden.

Nach der Embryogenese ist die Pflanze noch lange nicht fertig entwickelt. Es folgt, anders als bei Tieren, ein Prozess, bei dem post-embryonal wichtige Organe ausgebildet werden.

Bildquelle: © iStockphoto.com/ redmal

Pflanzenforschung.de: Warum schleust die Natur ihre Embryonen durch dieses Nadelöhr und greift für einen bestimmten Zeitraum nur auf evolutionsgeschichtlich alte Gene zurück?

Marcel Quint: Dazu gibt es bisher nur Hypothesen. Das alles könnte mit dem Maß an molekularer Interaktion während der Embryogenese zu tun haben. Zu Beginn der Embryogenese teilen sich die Zellen lediglich. Dazu sind wenige Gene essentiell. Danach beginnt die Differenzierungsphase. Mit fortschreitender Embryogenese werden immer mehr Gene wichtig für die Entwicklung des Embryos.

Da die mittlere embryonale Entwicklungsphase offenbar jene wichtige Phase ist, in der alle Organe angelegt werden, nutzen Pflanzen und Tiere in diesem sensiblen Stadium möglicherweise die gleichen Kontrollmechanismen zur Erhaltung der eigenen Art und zur Verhinderung der Etablierung von Mutationen. Ein Ausschalten der jungen, wandelbaren Gene bewirkt, dass in dieser Zeit das genetische Programm sehr strikt abläuft und für Veränderungen nicht zugänglich ist.

Unter der strengen Herrschaft der alten Gene formieren sich die Zellen zur richtigen Zeit und am richtigen Ort zu Körperachsen und Organverbänden. Erst wenn das Gerüst steht, wird es mit Hilfe der jungen Gene artspezifisch und individuell verkleidet. Die Engstelle der Sanduhr kann nur passieren, wer im Besitz eines korrekten Grundgerüstes ist. Das Sanduhrmuster scheint essentiell für einen Organismus zu sein, um die Embryogenese zu durchlaufen.

Ivo Grosse: Mit dem Begriff Embryogenese haben wir Menschen zwei Prozesse in Tieren und Pflanzen beschrieben, die unabhängig voneinander entstanden sind und doch dasselbe Muster aufweisen. Die Erkenntnis, dass die Natur zweimal unabhängig voneinander dasselbe Sanduhrmuster ausgeprägt hat, legt den Verdacht nahe, dass es ein – rein spekulativ – tiefer liegendes Geheimnis gibt, das möglicherweise alle Lebewesen, die eine Embryogenese durchlaufen, durch ein derartiges Nadelöhr zwingt.

Pflanzenforschung.de: Wie geht es weiter?

Marcel Quint: Eine logische Schlussfolgerung unserer molekularen Ergebnisse ist natürlich, dass es bei Pflanzen ein entsprechend ähnliches morphologisches Muster wie bei Tieren gibt. D.h., wir werden uns das Ganze auf Ebene der Morphologie anschauen müssen und testen, ob wir in anderen Pflanzenspezies ähnliches beobachten können.

Ivo Grosse: Marcel und mich verbindet das Ziel, dem Geheimnis der Genregulation auf die Spur zu kommen. Unsere Entdeckung des Sanduhrmusters bei der Embryogenese von Pflanzen hat unseren Forschungsfokus nun leicht verschoben. Wir sind nun angetan von der Idee, an dieser Front weiterzuarbeiten und zu versuchen, einige der neu aufgeworfenen Fragen, wie beispielsweise die nach der Morphologie der pflanzlichen Embryonen, gemeinsam mit anderen Forschungsgruppen zu beantworten.

Pflanzenforschung.de: Vielen Dank für das Gespräch und natürlich weiterhin viel Erfolg bei Ihrer Arbeit!


Zur Studie finden Sie hier einen Beitrag auf Pflanzenforschung.de.