Schnellschuss der Evolution

22.10.2010 | von Redaktion Pflanzenforschung.de

Löwenmäulchen. (Quelle: © Ilona Laufersweiler / www.pixelio.de)

Löwenmäulchen. (Quelle: © Ilona Laufersweiler / www.pixelio.de)

Die Evolution geht oft unperfekte Wege. Forscher zeigen, wie eine über 100 Millionen Jahre zurückliegende Genmutation Pflanzen dazu bringt, weibliche und männliche Blüten auf unterschiedliche Weise zu bilden.

Die biologische Vielfalt (Artenvielfalt) könnte ein Ergebnis genetischer „Ausrutscher“ sein. Um die Evolution der Lebewesen und die biologische Komplexität zu ergründen, untersuchen Pflanzenforscher die molekularen Mechanismen, die Entwicklungsprozessen in Pflanzen zu Grunde liegen. Ein britisches Forscherteam nahm hierzu die Evolution der Blütenpflanzen unter die Lupe. Am Beispiel der Modellpflanze Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana) und der Löwenmäulchen (Antirrhinum) untersuchten die Wissenschaftler die genetischen Grundlagen der Blütenbildung und machten dabei eine unerwartete Entdeckung.

Genetische Arbeitsteilung

In einigen Pflanzen liegt das Gen, das für die Ausbildung von männlichen und weiblichen Blütenorganen zuständig ist, doppelt, in zwei sehr ähnlichen Kopien vor. Jedes Gen enthält den Bauplan für ein bestimmtes Protein, das aus einer jeweils festgelegten Abfolge von Aminosäuren besteht. Bei der Genexpression werden die im Gen enthaltenen Informationen gelesen, in RNA-Moleküle umgeschrieben und dann zu Proteinen umgesetzt.

Die Forscher fanden nun heraus, dass bei Arabidopsis eine dieser Gen-Kopien für die Ausbildung weiblicher und männlicher Blütenorgane zuständig ist, während die andere Kopie eine völlig andere Aufgabe übernimmt: sie sorgt dafür, dass die Samenhülsen aufplatzen. Beim Löwenmäulchen sind hingegen beide Gen-Kopien für die Ausbildung der Geschlechtsidentität der Blüte zuständig. Die eine Kopie produziert hauptsächlich weibliche Blütenorgane (vereinzelt auch männliche), die andere Gen-Kopie kodiert nur männliche Blütenorgane. 

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Die Blüten des Löwenmäulchen sind nicht nur schön anzuschauen, sie sind auch ein spannendes Forschungsobjekt.

Die Blüten des Löwenmäulchen sind nicht nur schön anzuschauen, sie sind auch ein spannendes Forschungsobjekt.

Bildquelle: Albedo / www.pixelio.de

Am Scheitelpunkt der Entwicklung

Das Löwenmäulchen steht damit kurz vor einer endgültigen Arbeitsteilung der beiden Varianten des „Blütenidentitäts-Gens“. Die eine Gen-Kopie übernimmt die Produktion der weiblichen, die andere die der männlichen Blütenorgane. Für die Wissenschaftler zeigt diese Entwicklung einen Schlüsselmoment in der evolutionären Entwicklung: Durch die Duplikation der Gene können sich unabhängige biologische Funktionen entwickeln. Gibt es mehr Gene, die verschiedene Funktionen erfüllen, erhöht dies die Komplexität eines Organismus. Zudem führt diese Entwicklung zu einer Diversifikation vorhandener und zur Entwicklung neuer Arten. 

Aminosäure mit Einfluss

Wie kam es nun zu dieser funktionalen Arbeitsteilung der Gene? Um diese Frage zu klären, untersuchten die Wissenschaftler die Proteine, die von den „Blütenidentitäts-Genen“ beider Pflanzen kodiert werden. Sie konnten das unterschiedliche Verhalten dieser Gene in der Ackerschmalwand und dem Löwenmäulchen auf eine einzige Aminosäure zurückverfolgen. Zwar sehen die Blütenidentitäts-Gene bei beiden Pflanzen sehr ähnlich aus. Die Proteine, die sie kodieren, enthalten jedoch manchmal Reste der Aminosäure Glutamin und manchmal nicht. 

Ist diese Aminosäure im Protein vorhanden, ist die Funktion des Gens eingeschränkt und es entstehen nur männliche Blütenorgane. Ist sie nicht vorhanden, interagiert das Protein mit einer Reihe anderer Proteine, die für die Blütenbildung zuständig sind, und es entstehen weibliche und männliche Blütenorgane. 

Schnellschuss der Evolution

Das Fazit der Studie: Eine zufällige Genmutation kann eine große Wirkung auf die Entwicklung von Arten und damit auf die biologische Vielfalt haben. Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass eine winzige Mutation in einem Gen ausreicht, um in das kodierte Protein eine zusätzliche Aminosäure einzubauen. Diese Mutation veränderte nachhaltig die Art und Weise, wie Pflanzen ihre Blütenbildung kontrollieren. Das Gen hat einen so großen Einfluss, da es als einTranskriptionsfaktor in einem größeren Gennetzwerk (MADS-box) wirkt und damit die Funktion weiterer Gene mit beeinflusst. Die Familie von Transkriptionsfaktoren der MADS-box beeinflusst viele entwicklungsbiologische Prozesse in Pflanzen. 

In weiteren Studien wollen die Wissenschaftler nun die Protein-Interaktionen erforschen, die für die Produktion von weiblichen und männlichen Blütenorganen so bedeutend sind. 

Ob die Genmutation in eine evolutionäre Sackgasse führt oder weiter fortschreiten wird, wissen die Forscher nicht. Sie wagen jedoch einen Blick in die Vergangenheit: Vermutlich kam es vor etwa 120 Millionen Jahren zur Verdopplung des „Blütenidentitäts-Gens“ bei den Blütenpflanzen. Den Zeitpunkt in der Evolution der Blütenpflanzen, an dem die Mutation zu einer unterschiedlichen Nutzung des duplizierten Extragens bei Löwenmäulchen und Ackerschmalwand führte, vermuten die Wissenschaftler vor etwa 20 Millionen Jahren. 

Die Evolution ist nicht immer perfekt. Aber ohne sie gäbe es keine Chance für die Entwicklung neuer Arten und damit auch keine biologische Vielfalt. 


Quelle: 
Chiara A. Airoldi et al. (2010): Single amino acid change alters the ability to specify male or female organ identity. PNAS Online, 18. Okt. 2010, doi: 10.1073/pnas.1009050107 (abstract). 

Titelbild: Löwenmäulchen. (Quelle: © Ilona Laufersweiler / www.pixelio.de)