Das „geheime“ Wachstum der Bäume
Nachts wachsen, tagsüber Photosynthese
Wer hätte gedacht, dass Bäume überwiegend nur in der Nacht wachsen? Das ist das überraschende Ergebnis einer neuen Langzeit-Studie. Vor allem die Luftfeuchtigkeit bestimmt die Wachstumszeiten. Die neuen Ergebnisse können helfen, unsere Wälder besser an den Klimawandel anzupassen.
Damit Bäume wachsen und neue Zellen bilden können, betreiben sie Photosynthese. So können sie Kohlendioxid aus der Atmosphäre mittels Lichtenergie in Zucker umwandeln und ihre Biomasse erhöhen. Doch bisher war recht wenig darüber bekannt, wann eigentlich Bäume wachsen und von welchen äußeren Faktoren das abhängt. Gerade in Zeiten des Klimawandels sind solche Erkenntnisse wichtig, da unsere Wälder bereits heute stark unter Trockenheit und Hitze leiden. Diese Lücke wollte ein Forschungsteam unter der Leitung der schweizerischen Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL nun mit einer umfassenden empirischen Studie schließen.
Wachstum stündlich erfasst
Um genau ermitteln zu können, welche äußeren Faktoren das Wachstum der Bäume beeinflussen, benötigten die Forscher:innen Messdaten in kurzer zeitlicher Abfolge. Statt nur jährlich Jahrringproben oder kleine Holzproben in (zwei-) wöchentlichen Abständen auszuwerten – bislang die Standardmethoden – verwendete das Team an den Stämmen befestigte Dendrometer. Diese haben stündlich das Dickenwachstum gemessen.
Auf diese Weise standen sieben Baumarten an 50 Standorten in der Schweiz bis zu acht Jahren unter dauernder Beobachtung: Rotbuche (Fagus sylvatica), Gemeine Esche (Fraxinus excelsior), Flaumeiche (Quercus pubescens), Traubeneiche (Quercus petraea), Gemeine Fichte (Picea abies), Waldkiefer (Pinus sylvestris) und Weißtanne (Abies alba). Von insgesamt 170 Bäumen wurden beachtliche 57 Millionen Datenpunkte erfasst. Das Ergebnis zeigte Überraschendes: Bäume wachsen hauptsächlich nachts. Vor allem nach Mitternacht. Tagsüber wachsen sie fast nicht, mit Ausnahme am frühen Morgen.
Warum wachsen Bäume nachts?
Kohlenhydrate und damit Baustoffe für das Wachstum gewinnen Bäume tagsüber durch ihre Photosynthese. Aber warum wachsen dann Bäume gerade nachts, wenn keine Sonne scheint und die Photosynthese zum Erliegen kommt? Die Antwort fanden die Forscher:innen bei der Auswertung von zusätzlichem Datenmaterial: Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit und Bodenfeuchte (Bodenwasserpotenzial). Insbesondere das aus diesen Daten berechenbare Dampfdruckdefizit (kurz: VPD; engl: Vapour Pressure Deficit) – die Differenz zwischen der tatsächlichen Wassermenge in der Atmosphäre und der Menge, die bei einer 100%igen Sättigung enthalten sein könnte – zeigte einen entscheidenden Einfluss auf das Baumwachstum.
Bäume wachsen bei hoher Luftfeuchtigkeit (niedrigem VPD) deutlich besser. Einen Höhepunkt erreichte das Wachstum daher nach Mitternacht, wenn das VPD am niedrigsten ist. Tagsüber, wenn trockenere Luft herrscht, wird das Wachstum hingegen eingestellt. Das bedeutet aber auch, dass Bäume nur ein paar Stunden pro Tag wachsen und auch nicht an jedem Tag: Je nach Baumart nur ca. 15-30 Tage pro Jahr.
Luftfeuchtigkeit entscheidender als Bodenfeuchte
Die Wasserverfügbarkeit im Boden ist ebenfalls ein limitierender Faktor für das Wachstum. Aber selbst feuchte Böden können nichts ausrichten, wenn die Luft zu trocken ist. „Die größte Überraschung für uns war, dass die Bäume sogar in mäßig trockenen Böden wuchsen, sofern die Luft ausreichend feucht war. Umgekehrt blieb das Wachstum sehr gering, obwohl der Boden feucht, zeitgleich die Luft aber trocken war“, beschreibt Studienleiter Roman Zweifel.
Die Luftfeuchtigkeit scheint daher der alles entscheidende Einflussfaktor zu sein. Wenn auch nur indirekt. Denn der Wasserhaushalt im Baum selbst gibt den Startschuss fürs Wachstum. Tagsüber, wenn die Luft trockener wird, verlieren die Bäume vorübergehend mehr Wasser durch Transpiration, als sie über die Wurzeln aufnehmen können. Es herrscht ein Wasserdefizit während der Tageslichtstunden und das Wachstum stoppt. Nach Einbruch der Dunkelheit dauert es dann mehrere Stunden, bis sich das Wasserdefizit der Bäume ausgeglichen hat und die Wachstumsprozesse wieder anlaufen.
Es zeigten sich auch artspezifische Unterschiede, mit Wachstumsspitzen zwischen 1:00 und 6:00 Uhr. Arten, die nachts früher mit dem Wachstum beginnen können, wuchsen auch insgesamt über das Jahr verteilt stärker. Demnach haben die Bäume einen Vorteil, die ihr Wasserdefizit schneller wieder ausgleichen können.
Wachstum stoppt noch vor der Photosynthese
Die Studie belegt sehr anschaulich, dass die Kohlenstoffspeicherung durch die Photosynthese bei Bäumen tagsüber stattfindet, der Verbrauch der Photosyntheseprodukte aber hauptsächlich in der Nacht. Die Ergebnisse zeigen auch, dass Wachstumsprozesse empfindlicher auf trockene Luft reagieren als die Photosynthese. Denn noch bevor sich am Tag die Spaltöffnungen schließen, um Wasserverluste zu vermeiden, stellt der Baum sein Wachstum ein. „Bäume hören auf zu wachsen, bevor die Photosynthese gehemmt wird“, fasst Zweifel die neuen Erkenntnisse zusammen.
Wichtige Erkenntnisse für den Waldumbau
Die Studie zeigt, wie einzelne Baumarten mit Trockenheit besser oder schlechter umgehen können. Die bislang verwendeten Klima-Waldentwicklungsmodelle sind zu ungenau, da sie lediglich auf Jahresmittelwerten des Wachstums beruhen und Tagesschwankungen nicht berücksichtigen. Mit den neuen Messverfahren lassen sich nun die Ansprüche der Baumarten an die Luftfeuchtigkeit besser einschätzen, um geeignete Arten für ein zunehmend trockeneres und wärmeres Klima gezielt auszuwählen. Die Uhr tickt jedenfalls: Schon jetzt wachsen viele heimische Bäume unter dem Einfluss der Klimaveränderungen messbar langsamer.
Quelle:
Zweifel, R. et al. (2021): Why trees grow at night. In: New Phytologist, (12. Juni 2021), doi: 10.1111/nph.17552.
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Titelbild: Bäume wachsen fast ausschließlich in der Nacht. (Bildquelle: © StockSnap / Pixabay)