Die Taufliege der Pflanzenforschung
Forscher präsentieren Erbgut von 1.135 Arabidopsislinien
Sie war die erste Pflanze, deren Erbgut in hoher Qualität Ende der 90er vollständig entziffert wurde. Keine zwanzig Jahre später präsentieren Forscher nun im Rahmen des 1001 Genom-Projekts das Erbgut von 1.135 Linien des Modellorganismus. Ein Datenschatz für zukünftige Projekte und Studien, der zugleich vieles über die Vergangenheit der Ackerschmalwand verrät.
Sie gilt als „Laborratte“ der Pflanzenforschung und zählt zu den beliebtesten und meist genutzten Modellorganismen überhaupt. Die Rede ist von Arabidopsis thaliana. Ein äußerlich unscheinbares, unkrautartiges Gewächs, das in Wahrheit jedoch an einer Vielzahl wissenschaftlicher Erkenntnisse und Fortschritte in den letzten Jahrzehnten maßgeblich beteiligt war. Längst steht das Genom der krautigen Pflanze im Visier von Genomforschern, die sich für die genetische Vielfalt des Modellsystems interessieren. Vor allem seit dem Jahr 2008, als der Startschuss für das 1001 Genom-Projekt („1001 Genomes“) fiel, im zuge dessen das Erbgut von mindestens 1.001 Arabidopsis-Vertretern sequenziert werden sollte.
Vertreter aus der nördlichen Hemisphäre
Wie die jüngste Publikation des federführenden Konsortiums unter der Leitung von Detlef Weigel (Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, Tübingen) und Magnus Nordborg (Gregor Mendel Institut, Wien) nun zeigt, wurde das Ziel ein Stück weit sogar übertroffen: Acht Jahre nach Projektstart stehen der Pflanzenforschung nun die Genomdaten von insgesamt 1.135 weiteren Arabidopsis-Vertretern zur Verfügung. Wie der Studie zu entnehmen ist, stammen diese aus verschiedensten Regionen der Nordhalbkugel, die zwischen dem 15. und 63. nördlichen Breitengrad sowie zwischen dem 119. westlichen und 136. östlichen Längengrad liegen. Sprich, die sich von der USA bis nach Asien und von Zentralafrika bis nach Schweden erstrecken.
Kein Individuum gleicht dem anderen
Der Wert dieses Datenschatzes, in dem, wie betont wird, kein Individuum dem anderen genetisch betrachtet gleicht, ergibt sich aus dem Potenzial, die Anpassungsfähigkeit der Arabidopsis nun noch besser zu erforschen. Also jene Gene zu identifizieren, die u. a. über das Wurzelwachstum, die Blütenbildung, die Toleranz oder Resistenz gegenüber bestimmten abiotischen und biotischen Einflüssen entscheiden. Ein Fundus voller Informationen für die Pflanzenforschung und -züchtung, der Anwendern nun frei zugänglich ist, zugleich aber auch Interessantes über die Vergangenheit und Herkunft der Arabidopsis verrät.
Die Neandertale unter ihnen
Wie genetische Analysen ergeben haben, werden die heutigen Verbreitungsgebiete in der nördlichen Hemisphäre von insgesamt sechs Gruppen bevölkert, die sich in ihrer genetischen Ausstattung signifikant unterscheiden. Die Mehrheit der Arabidopsis-Pflanzen gehört zur Hauptgruppe, die nach der letzten Eiszeit entstanden und heute am weitesten verbreitet ist. „Die anderen fünf Gruppen sind quasi die 'Neandertaler'. Sie sind schon vor der letzten Eiszeit entstanden und haben als genetisch unterschiedliche Populationen auf den Kanarischen und Kapverdischen Inseln, auf Sizilien, im Libanon und als große verstreute Gruppe auf der Iberischen Halbinsel überlebt“, erklärt Weigel.
Ein Tummelplatz der Generationen
Das heutige Verbreitungsgebiet auf der Nordhalbkugel ähnelt somit einem Mosaik, in dem sich jüngere Vertreter gemeinsam mit ihren Urahnen tummeln. Wobei bei genauerer Betrachtung auffällt, dass Letztere ihren angestammten bzw. voreiszeitlichen Standorten hinsichtlich der klimatischen Bedingungen in der Regel treu geblieben sind und nun in Gesellschaft zugezogener, jüngerer Verwandten leben. Besonders viele dieser voreiszeitlichen Relikte sind heute auf der iberischen Halbinsel anzutreffen.
Hot-Spot in Europa
„Auch wenn die Relikte der Arabidopsis dort nach wie vor weit verbreitet sind, konzentrieren sie sich stets auf sehr spezifische und charakteristische Gegenden mit höheren Temperaturen, geringeren Niederschlägen, meist in Gegenden alter Eichen- oder Pinienwälder“, schreiben die Forscher in der Studie. Eigenschaften, die in Zeiten des Klimawandels besondere Aufmerksamkeit erhalten und die Pyrenäenhalbinsel deshalb zu einem interessanten Hot-Spot machen. Den genetischen Daten zufolge wichen die Überlebenden der letzten Eiszeit, die sogenannten Arabidopsis-Neandertaler, in ein eiszeitliches Rückzugsgebiet (Glazialrefugium) in Nordafrika aus, von wo aus sie nach dem Abklingen wieder gen Norden, in ihre ursprüngliche Heimat wanderten.
Der Einfluss des Menschen auf die Verbreitung
Während sich die Urahnen der Arabidopsis ihren jeweiligen Herkunftsgebieten relativ einfach zuordnen lassen, steht die Antwort auf diese Frage in Bezug auf die jüngeren Vertreter noch aus. Fraglich ist, ob sie überhaupt möglich ist. Fakt ist, dass der Einfluss des Menschen zumindest auf die Verbreitung nicht von der Hand zu weisen ist, so die Forscher. So folgten diese in den vergangenen Jahrtausenden seinen Wegen - von Zentralasien in Richtung Zentraleuropa - und ließen sich dort nieder, wo auch er es tat. Vertreter der Hauptgruppe sind daher heute vor allem in ehemaligen und heutigen urbanen oder landwirtschaftlich genutzten Regionen anzutreffen.
Wissen für die ökologische Genomik
Für die Pflanzenforschungscommunity bietet sich von nun an die Gelegenheit, die genetischen und epigenetischen Hintergründe der ökologischen Anpassung der Arabidopsis besser zu erforschen als zuvor, womit wir uns im Bereich der ökologischen Genetik und Genomik bewegen. Ihr Anliegen besteht kurz und knapp darin, die genetischen Grundlagen evolutionärer Anpassung zu untersuchen und besser zu verstehen. Dieses Wissen ist natürlich nicht nur für Grundlagenforscher relevant. Wie bei der Aufklärung der Genfunktionen erhoffen sich die Forscher, neue Erkenntnisse auch auf andere Arten zu übertragen.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die genetische Vielfalt innerhalb der Arabidopsis-art größer ist, als bei jedem anderen bisher erforschten Organismus, ohne Ausnahme des Menschen. Im Durchschnitt komme auf jeden Genabschnitt von der Länge von zehn Basenpaaren eine Abweichung, so die Forscher. Eine Erklärung für die extreme Anpassungs- und Überlebensfähigkeit der unscheinbaren Pflanze.
Saubere Luft durch Pflanzen?
Eindrucksvoll wurde dies erst kürzlich wieder unter Beweis gestellt, als Forscher mehr oder weniger zufällig herausfanden, dass Arabidopsis-Pflanzen Stickstoffmonoxid (NO) mit Hilfe pflanzeneigener Hämoglobine aus der Luft gewinnen, in ihren Stoffwechsel einspeisen und ihr Wachstum investieren.
Erstautor Gitto Kuruthukulangarakoola erklärt den Hintergrund: „Der Mechanismus ist vermutlich entstanden, um Pflanzen an Standorten mit Stickstoffmangel ein Überleben zu sichern.“ Bisher nahm man an, dass in der Luft enthaltenes Stickstoffmonoxid Pflanzen nicht zur Verfügung stünde, sie zudem unter Stress setze. Durch gezielte Modifikationen im Erbgut ließ sich die Menge an fixiertem Stickstoffmonoxid auf rund 250 mg pro Kilogramm Trockengewicht erhöhen, die Rosetten junger Pflanzen in puncto Größe und Gewicht um 25 % bzw. 40 %, das Volumen der Knospen um 30 % und den Samenertrag um ganze 50 % steigern. (Mehr dazu im aktuellen Artikel: Bessere Luft - Pflanzen reinigen die Luft von Stickoxiden)
Obwohl der Kreuzblütler bereits Gegenstand zigtausender wissenschaftlicher Publikationen war (laut www.arabidopsis.org über 90.000), dürfte die Arbeit von Weigel und Nordborg der Forschung rund um den Modellorganismus und weiterer Wild- und Kulturpflanzen einen kräftigen Schub verpassen und dafür sorgen, dass eine Vielzahl von verborgenen genetischen, molekularen und physiologischen Eigenschaften entdeckt werden. Auch leisten die Pflanzenwissenschaftler in einem weiteren Aspekt Pionierarbeit: Gegenüber vielen anderen Bereichen haben sie einen neuen Maßstab in puncto Datenzugang und gemeinschaftlicher Datennutzung gesetzt.
Quellen:
- Weigel, D., Nordborg, M. (2016): 1,135 Genomes Reveal the Global Pattern of Polymorphism in Arabidopsis thaliana. In: Cell, Vol. 166 (1-11), (14. Juli 2016), doi.org/10.1016/j.cell.2016.05.063
- Kuruthukulangarakoola, G.T. et al. (2016): Nitric oxide-fixation by non-symbiotic hemoglobin proteins in Arabidopsis thaliana under N-limited conditions. In: Plant, Cell & Environment, (31. Mai 2016), doi: 10.1111/pce.12773
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Titelbild: Für die einen ist es Unkraut, für die anderen der Modellorganismus par excellence: Arabidopsis thaliana. (Bildquelle: © Carl Davies/TAIR/CSIRO/CC BY 3.0)