Evolution geht auch rückwärts
Extreme Anpassungen können rückgängig gemacht werden
Es geht im Leben nicht immer gradlinig voran. Auch die Evolution macht eigene Erfindungen manchmal wieder rückgängig und gibt extreme Spezialisierungen zugunsten von gewöhnlichen Eigenschaften wieder auf.
Der Schwertschnabelkolibri ist ein ungewöhnlicher Vogel, denn sein Schnabel ist länger als sein restlicher Körper. Diese seltsame Anatomie ist das Ergebnis von Evolution im Gleichschritt, auch Koevolution genannt. Der Kolibri und bestimmte Passionsblumen haben sich über Millionen von Jahren aneinander angepasst. Inzwischen ist Ensifera ensifera die einzige Vogelart, deren Schnabel lang und dünn genug ist, um den Nektar am Grund der schmalen Nektarröhre von Passiflora zu erreichen und dabei die Pflanze zu befruchten.
Auf gewisse Art profitieren jetzt beide von ihren extremen Merkmalen, in der Biologie spricht man von Mutualismus. Der Kolibri konkurriert nicht mehr mit anderen Vögeln oder Faltern um die Nahrung, da er als einziger auf den nektarsüßen Blütenboden vordringen kann. Die Passionsblume, auf Fremdbefruchtung angewiesen, muss sich keine Gedanken mehr um eine erfolgreiche Bestäubung machen.
Die Evolution macht schnelle Kehrtwenden
Lange Zeit dachte man, dass solche extremen Spezialisierungen nicht mehr rückgängig gemacht werden, sondern sich nur immer weiter entwickeln. Professor Dr. Susanne Renner von der Ludwigs-Maximilian-Universität in München hat mit Hilfe von Stammbaumanalysen herausgefunden, dass das keinesfalls so ist. Zahlreiche Passiflora-Arten haben ihre langen Blüten zugunsten von kürzeren Nektarröhren wieder aufgegeben.
„Als Biologin habe ich mir schon gedacht, dass es keine Entwicklung gibt, die nicht wieder rückgängig gemacht werden kann, aber dass es in so kurzer Zeit geschieht, war unerwartet“, erzählt die Forscherin, die sich seit ihrer Doktorarbeit mit den Interaktionen zwischen Pflanzen und Tieren beschäftigt.
Ihre Arbeitsgruppe analysierte die Kern- und Plastid-DNS von insgesamt 43 Arten der Passionsblumen-Untergattung Tacsonia, davon 26 Arten mit extrem langen und 17 Arten mit kurzen Blütenröhren. Dabei fanden sie heraus, dass die extrem langen Nektarröhren vor etwa 11 Millionen Jahren entstanden sind. Vor zwei bis vier Millionen Jahren schwenkten einige Arten wieder auf kurze Blüten um und können jetzt von kurzschnäbligen Kolibris oder Fledermäusen bestäubt werden. Teilweise änderten die Pflanzen sogar ihre Blütenfarbe. Aus kolibrifreundlichem Rot wurde Grün-Weiß, was nachtaktiven Fledermäusen ins Auge sticht.
Extrem angepasst und extrem abhängig
Vermutlich war dieser Rückwärtsgang notwendig, um das eigene Überleben zu sichern. Wenn Ensifera ensifera zum Beispiel aufgrund von Lebensraumfragmentierung immer seltener bei den Passionsblumen vorbeischaut, dann muss die Evolution handeln und die Blüten für andere Bestäuber zugänglich machen, sonst stirbt die Art aus. Mindestens vier Passiflora-Arten hat genau dieses Schicksal ereilt, sie kommen in bestimmten Regionen Ecuadors inzwischen nicht mehr vor. Der Kolibri hatte sie ihm Stich gelassen.
Denn extreme Anpassungen machen auch extrem abhängig. Ohne den Schwertschnabelkolibri können die langblütigen Passionsblumen sich nicht fortpflanzen. Der Vogel selbst ist nicht ganz so abhängig, er nascht auch am Nektar anderer Pflanzen. „Die Pflanze steckt also viel mehr in der Zwickmühle als der Vogel“, fasst Renner zusammen. Eine Rückkehr zu kurzen Blüten und damit der Bestäubung durch andere Kolibris oder Fledermäuse war die einzige Option.
Quelle:
Abrahamczyk, S. et al. (2014): Excape from extreme specialization: passionflowers, bats and the sword-billed hummingbird. In: Proc. R. Soc. B, 281: 20140888, (1. Oktober 2014), DOI: 10.1098/rspb.2014.0888.
Zum Weiterlesen auf Pflanzenforschung.de:
- Verhängnisvolle Nascherei – Akazien treiben Ameisen mit Nektar in die Abhängigkeit
- Der etwas andere Landwirt – Ein Pilz baut sich Bakterien an
- Symbiose statt Cellulose – Eine Sackgasse der Evolution
Titelbild: Schwertschnabelkolibris leben im Nebelwald Südamerikas zwischen Bolivien und Venezuela auf einer Höhe von 1.700 bis 4.000 Metern. (Bildquelle: © Joseph C Boone/wikimedia.org; CC BY-SA 3.0)