Unterschätztes Gift
Neonicotinoide haben offenbar doch mehr negative Auswirkungen als bisher vermutet
Forscher stellen in den Niederlanden einen indirekten Effekt zwischen der Pestizid-Konzentration in der Umwelt und abnehmenden Vogelzahlen fest.
Silent spring – nahezu jeder kennt das Buch von Rachel Carson aus dem Jahr 1962, in dem es um die schleichende Vergiftung der Umwelt durch das Pflanzengift DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan) geht. DDT wurde in Deutschland verboten, nachdem man festgestellt hatte, dass sich das fettlösliche Gift sich in der Nahrungskette anreichert und so indirekt andere Tiere und auch Menschen schädigen kann. Daraufhin begann die Suche nach Pflanzenschutzmitteln, die möglichst nur die jeweiligen Schadorganismen treffen und für andere Lebewesen, vor allem Wirbeltiere, harmlos sein sollten. Als solche „selektiven Gifte“ wurden die sogenannten Neonicotinoide Anfang der Neunziger gepriesen. Möglicherweise zu Unrecht, wie niederländische Forscher jetzt heraus fanden.
Neonicotinoide in der Umwelt
Die synthetisch hergestellten Neonicotinoide sind eine neue Generation von Pestiziden, die seit den Neunziger Jahren in großen Mengen im Gartenbau und in der Landwirtschaft verwendet werden. Sie wirken auf das zentrale Nervensystem von Insekten und deren Larven, indem sie an einen bestimmten Rezeptor binden. Bei Säugetieren und Vögeln binden Neonicotinoide wesentlich weniger stark an die vergleichbaren Rezeptoren, so dass sie für Wirbeltiere lange Zeit als weitgehend ungefährlich galten. Neonicotinoide werden deshalb als selektiv wirkende Gifte bezeichnet. Nachdem es 2008 im Oberrheingraben durch ein Neonicotinoid zu einem massiven Bienensterben gekommen war, wurden in Deutschland das Beizen von Maissaatgut mit verschiedenen gebräuchlichen Neonicotinoiden verboten.
Neonicotinoide werden häufig als Beize für Saatgut verwendet. Die Pflanze nimmt den Wirkstoff auf und verteilt ihn in ihrem Gewebe. Somit sind alle Pflanzenteile gegen Insektenfraß geschützt. Untersuchungen haben allerdings ergeben, dass von der Beize lediglich fünf Prozent in die Pflanze wandern. Ein Prozent wird vom Wind verdriftet, die restlichen 94 Prozent gelangen in den Boden und in Oberflächengewässer. Untersuchungen zeigen, dass sie sich dort bis zu 1000 Tagen halten können, ehe sie abgebaut werden. In dieser Zeit kann es zur Schädigung vor allem von Wasserorganismen, unter anderem auch die im Wasser lebenden Larven vieler Fluginsekten kommen.
Sinkende Vogelzahlen
Um herauszufinden, ob Neonicotinoide, namentlich das häufig verwendete Imidacloprid, einen negativen Effekt auf die Populationen von insektenfressenden Vogelarten haben, verglichen Forscher aus den Niederlanden in einer Metastudie die Daten aus einer langjährigen Vogelzählung und aus Wasseruntersuchungen für den Zeitraum von 2003 bis 2010. Dabei konnten sie statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen der Neonicotinoid-Konzentration und dem Vogelbestand erkennen. Auf 14 der 15 untersuchten Vogelarten wirkte sich das Vorhandensein von Imidacloprid im Wasser negativ aus. Ab einer Konzentration von 19,43 Nanogramm (ng) pro Liter konnten die Wissenschaftler einen Schwund in den Vogelpopulationen von 3,5 Prozent pro Jahr in den betroffenen Gebieten ausmachen. Als Kontrolle testeten sie, ob andere Effekte zu den sinkenden Populationen geführt haben könnten. Dazu untersuchten sie die Vogelzahlen vor der Einführung von Imidacloprid im Jahr 1994, um eventuelle Trends zu entdecken. Es zeigten sich aber keine Zusammenhänge.
Vögel verhungern
Wie kommt es zu den abnehmenden Zahlen bei den Vogelpopulationen? Die Forscher gehen davon aus, dass es keine direkte Vergiftung ist, die den Vögeln zusetzt. Vielmehr vermuten sie, dass das Gift durch seine lange Verweildauer nicht nur Schädlinge abtötet, sondern auch viele unbeteiligte Insektenarten, so dass die Individuenzahl der Insekten allgemein sinkt. Alle 15 untersuchten Vogelarten füttern ihre Jungen mit Insekten, neun Arten leben auch als ausgewachsene Vögel von ihnen. Die Forscher vermuten daher, dass die Vögel in Gegenden, wo die Imidacloprid-Konzentrationen im Wasser den kritischen Bereich überschreiten, nicht mehr genug Nahrung finden, um ihre Jungen durchzufüttern.
Neubewertung erforderlich
Allem Anschein nach sind Neonicotinoide durch die Komplexität natürlicher Zusammenhänge in der Nahrungskette nicht so harmlos, wie man bisher angenommen hatte. Sie haben offenbar einen indirekten Effekt auf das Ökosystem. Die EU hat die Verwendung von Imidacloprid bereits 2013 eingeschränkt, zum Beispiel ist die Saatgut-Behandlung von Raps mit verschiedenen Neonicotinoiden verboten. Allerdings zielen diese Beschränkungen in erster Linie auf den Bienenschutz und gelten vorerst nur für die Dauer von zwei Jahren. Die Wissenschaftler fordern daher von der Gesetzgebung dringend eine Neubewertung für die Verwendung von Neonicotinoiden in der Landwirtschaft, vor allem im Hinblick auf deren lange Verweildauer und noch unzureichend erforschte bzw. vielleicht noch gar nicht bekannte indirekte Effekte, die sie auf das Ökosystem als Ganzes und damit vielleicht auch auf dem Menschen haben könnten.
Quelle:
Hallmann, C. et al. (2014): Declines in insectivorous birds are associated with high neonicotinoid concentrations. In: Nature Vol 511, 341–343, (17. Juli 2014), doi: 10.1038/nature13531.
Zum Weiterlesen:
- Unterschätzte Gefahr - Sind Pestizide eine bisher unterschätzte Gefahr für Amphiben?
- Artenvielfalt in Gewässern gefährdet - Pestizide reduzieren die regionale Biodiversität
- Giftigkeit berechnet - Lebensdauer und Wirkung von Pestiziden werden oft falsch eingeschätzt
Titelbild: Vogel (Star) mit gefangenem Insekt: Die Abnahme von Insekten durch Neonicotinoide könnte zu einem Absinken von Vogelpopulationen geführt haben. (Bildquelle: © iStock.com/Argument)