Wenn Mehr zum dominierenden Problem wird
Erstmals mehr übergewichtige als untergewichtige Menschen auf der Welt
Eine neue Metastudie belegt einen starken Anstieg der Zahl übergewichtiger und adipöser Menschen. Die Zahl der untergewichtigen Menschen geht hingegen zurück. Für bestimmte Regionen bleiben Mangel- und Unterernährung dominierende Gesundheitsprobleme. Ein umsichtigerer Umgang mit Lebensmitteln, belegt eine andere aktuelle Studie, würde nicht nur zur globalen Lebensmittelsicherheit beitragen, sondern gleichzeitig Klimafolgen mildern. Besonders in den Industriestaaten landen nach wie vor zu viele Lebensmittel nicht auf dem Teller sondern im Müll.
In den letzten 40 Jahren stieg der Anteil übergewichtiger und stark übergewichtiger, Menschen deutlich an. Einer weltweiten Metastudie zufolge hat die Zahl der übergewichtigen Menschen die der untergewichtigen im Jahr 2010 erstmals überholt. Heute sind auf der Welt knapp 2.6 Milliarden Menschen übergewichtig oder adipös, im Gegensatz zu 105 Millionen im Jahr 1975. 1.4 Milliarden Menschen leiden noch immer an Unterernährung.
Beeindruckende Studie zum Body-Mass-Index von Erwachsenen
Die umfangreiche Metastudie, die durch das NCD Risk Factor Collaboration (NCD-RisC)-Netzwerk durchgeführt wurde, berücksichtigt Daten, die über eine Zeitspanne von 40 Jahre in knapp 200 Ländern erhoben wurden. Sie ist mit knapp 19 Millionen Teilnehmern die bis heute umfassendste Studie zum Body-Mass-Index (BMI) von Erwachsenen und wurde am 2. April in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht. Insgesamt waren über 700 Forscher weltweit an der Studie beteiligt. 1700 Einzelstudien sind in die Auswertung eingeflossen. Der BMI ergibt sich durch Körpergewicht geteilt durch Körpergröße im Quadrat. Übergewichtige Menschen tragen ein größeres Gesundheitsrisiko. Verbunden mit der Fettleibigkeit nimmt das Risiko an Diabetes, Krebs, Nieren- oder Herzkreislauf-Erkrankungen zu.
Dramatische Werte für einige Inselstaaten
Den Höchsten durchschnittlichen BMI haben Bewohner der Inselstaaten Polynesien, Mikronesien und Amerikanisch-Samoa mit über 32 bei Männern und 35 bei Frauen. In Polynesien und Mikronesien sind über 38% der Männer und mehr als 50% der Frauen übergewichtig im Sinne einer Adipositas Grad I. Den höchsten durchschnittlichen BMI in den Industriestaaten haben die Männer und Frauen aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort sind 41 Millionen Männer und 46 Millionen Frauen übergewichtig, was damit knapp einem Viertel der Bevölkerung entspricht. In absoluten Zahlen leben nur noch in China, mit 89 Millionen übergewichtigen Männern und Frauen, mehr fettleibige Menschen als in den USA. In den Industriestaaten gibt es allerdings auch positive Beispiele für eine Balance von Ernährung und Lebensweise. Japanerinnen und Japaner sind neben Frauen aus Singapur mit einem sehr niedrigen BMI am wenigsten von Fettleibigkeit bedroht. Bei ihnen hat sich der durchschnittliche BMI seit 1975 nahezu nicht erhöht.
Unterernährung ist immer noch ein globales Problem
Die Autoren warnen davor, dass das Problem des zunehmenden Übergewichts das Problem der Unterernährung aus dem Bewusstsein verdrängen könnte. Weltweit hat sich zwar die Unterernährung bei Männern von 14% auf 9% und bei Frauen von 15% auf 10% verringert. In absoluten Zahlen sind dies 1.4 Milliarden an Unterernährung leidenden Menschen. Eine nach wie vor beunruhigend große Zahl. Besonders betroffen sind Staaten Zentral – und Ostafrikas. Hier ist Unterernährung mit 12% bei den Frauen und 15% bei den Männern, wie in einigen asiatischen Staaten nach wie vor sehr hoch. In Bangladesch beispielsweise leiden 11 Millionen Männer und 13 Millionen Frauen an Unterernährung. Der niedrigsten durchschnittliche BMI mit unter 21 wurde bei Frauen aus Timor-Leste, Äthiopien und Eritrea ausgemacht. Ein Fünftel der Männer aus Indien, Bangladesch, Timor-Leste, Afghanistan, Eritrea und Äthiopien gilt ebenfalls als untergewichtig.
Unterversorgung ist vermeidbar
Die Diskrepanz zwischen Über- und Untergewicht ist alarmierend. Verstärkt wird diese durch einen weiteren Aspekt – die Lebensmittelverschwendung. Ein Drittel der globalen Nahrungsmittelproduktion findet nicht den Weg auf den Teller. Ein umsichtiger Umgang mit Lebensmitteln würde zu einer globalen Lebensmittelsicherheit beitragen und gleichzeitig auch Ertragssschwankungen durch Klimafolgen wie Wetterextreme oder den Anstieg der Meeresspiegel und den drohenden Verlust landwirtschaftlicher Flächen verhindern. Dieses Ergebnis zeigten Forscher des Potsdam Institute for Climate Impact Research (PIK) in einer anderen Studie.
Global ist das Nahrungsmittelangebot laut der Forscher mehr als ausreichend um einen durchschnittlichen Bedarf aller Menschen weltweit zu decken, allerdings ist die globale Verteilung der Nahrungsmittel unzureichend. Die Studie analysiert den Nahrungsmittelbedarf auf Basis physiologischer Voraussetzungen und Aktivität für vergangene und verschiedene künftige Szenarien. Haupterkenntnis der Studie ist, dass sich das Verhältnis zwischen Nahrungsmittelverfügbarkeit und –bedarf mit dem Entwicklungsstand des Landes verändert. Reiche Länder beispielsweise konsumieren mehr Nahrung als gesund ist und verschwenden mehr Lebensmittel als ärmere Länder.
Die Landwirtschaft als einer der Treiber des Klimawandels
Bereits im Jahr 2010 war die Landwirtschaft, mit circa 20% aller weltweiten Treibhausgasemissionen, einer der größten menschengemachten Einflussfaktoren auf den Klimawandel. Die mit Lebensmittelverschwendung verbundenen Emissionen werden den Forschern nach voraussichtlich von heute 0,5 auf 1,9-2,5 Gigatonnen CO2-Äquivalente bis 2050 steigen und könnten damit ein Zehntel der globalen Treibhausgasemission aus der Landwirtschaft ausmachen. Diese wären bei zukünftigen 18 Gigatonnen, die die Landwirtschaft insgesamt ausstößt, ein signifikanter Posten. Noch dazu einer, der sich relativ leicht durch bessere Nutzung und Verteilung von Nahrungsmitteln einsparen ließe. Der menschliche Einfluss auf den Klimawandel könnte gemindert werden ohne Verzicht zu üben.
Doppelte Herausforderung für Entwicklungs- und Schwellenländer
Das Ergebnis der globalen Gewichtszunahme und des erhöhten Ausstoßes von CO2 Emissionen wird sich in den kommenden Jahren noch verschärfen, da damit gerechnet wird, dass Schwellenländer wie China oder Brasilien den westlichen Ernährungsstil übernehmen. In diesem Zusammenhang ist der sogenannte "Double Burden" zu nennen. Dieser beschreibt die doppelte Belastung wenn Unterernährung und Übergewicht in der gleichen Gesellschaft auftreten. China beispielsweise ist sowohl Spitzenreiter beim Übergewicht und beim Untergewicht auf dem zweiten Platz. Übergewicht, Diabetes, Herzinfarkt und Schlaganfall nehmen in diesen Entwicklungs- und Schwellenländern zu. Übergewicht wird noch stärker als heute zum globalen Problem, wenn nicht jetzt wichtige Stellschrauben verändert werden.
Strategien gegen Über- und Untergewicht sind dringend notwendig
Das Autoren-Netzwerk des NCD-RisC führt aus, dass es neue Strategien für eine Verlangsamung oder für den Stopp des Trends von steigendem Gewicht geben muss. Als Beispiel werden eine zielführende Lebensmittelpolitik inklusive stärkerer und angepasster Aufklärung und ein gut entwickeltes Gesundheitssystem genannt. Beide Studien weisen auf einen akuten Handlungsbedarf hin, der viele Bereiche der Gesellschaft fordert – Produktion, Verarbeitung, Lagerung, Marketing oder der private Konsum sind genauso gefordert wie Politik, Bildung und Aufklärung. Zurzeit wird jedoch in den Industriestaaten hauptsächlich gegen die Symptome einer falschen Ernährung vorgegangen. Diese Symptome sind Diabetes, ein hoher Cholesterinspiegel und Bluthochdruck.
Neben der Ermittlung des Body-Mass-Index als Indikator eines komplexen Problems von Ernährung und Lebensstilen könnte die Erfassung der Lebenserwartung oder die der steigenden Gesundheitskosten weitere Handlungsimpulse setzen. Spätestens wenn sichtbar welche Auswirkungen eine falsche oder maßlose Ernährung auf die Lebenserwartung hat, sollte sich ein ganz persönlicher Handlungsdruck entwickeln. Aber auch das Problem der Mangel- und Unterernährung muss angegangen werden. Vor allem weil diese im frühen Kindesalter zu bleibenden Schäden führt, die das gesamte Leben der betroffenen Menschen beeinflussen. So führt ein Nährstoffmangel in der frühen Jugend zur Beeinträchtigungen der Entwicklung des Gehirns, die nie mehr ausgeglichen werden können. Aber auch eine höhere Anfälligkeit gegenüber Infektionserkrankungen hat Einfluss auf die Lebenserwartung.
Quellen:
- Hic, C. et al. (2016) Food Surplus and Its Climate Burdens. In: Environmental Science & Technology. DOI: 10.1021/acs.est.5b05088.
- NCD Risk Factor Collaboration (NCD-RisC) (2016): Trends in adult body-mass index in 200 countries from1975 to 2014: a pooled analysis of 1698 population-basedmeasurement studies with 19·2 million participants. In: Lancet 2016; 387: 1377-96), DOI: 10.1016/S0140-6736(16)30054-X.
Zum Weiterlesen:
- Durch gezielte Prävention Adipositas vermeiden
- Adipositas - Warum werden die Menschen immer dicker?
- Klimawandel mit Tradition - Die Beeinflussung des Klimas durch den Menschen setzte schon vor mindestens 3.000 Jahren ein
Titelbild: Die Zahl der übergewichtigen Menschen hat 2010 erstmals die der untergewichtigen überholt. (Bildquelle: © iStock.com / Kristina Stasiuliene)