Ein unlösbarer Konflikt?
Ernährungssicherheit und Schutz der Biodiversität dürfen sich nicht gegenseitig ausschließen
Um den dramatischen Verlust an Biodiversität aufzuhalten, werden zum Teil sehr strenge Schutzmaßnahmen diskutiert, die aber auch die Ernährungssicherheit der Menschen gefährden könnten. Daher muss mit Augenmaß vorgegangen werden, fordern Forscher:innen in einer neuen Studie.
Der Schutz der Lebensgrundlagen ist eins der wichtigsten Ziele der Menschheit. Um das zu erreichen, wurden 2012 die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainability Goals oder SDGs) sowie 2010 die Aichi-Ziele beschlossen. Eine Umsetzung war bis 2020 geplant, gelang bisher aber nicht. Weil die Zeit allmählich knapp wird, werden nun strengere Maßnahmen diskutiert – unter anderem die Ausweisung großflächiger Schutzgebiete. Welche Auswirkungen das auf die globale Ernährungssicherheit und Gesundheit der Menschen hätte, untersucht jetzt eine Studie unter Beteiligung des Karlsruher Institutes für Technologie (KIT).
50 Prozent der Landfläche unter Schutz
Für ihre Modellierungen gingen die Forscher:innen von der Annahme aus, dass bis zum Jahr 2040 etwa 30 oder sogar 50 Prozent der Landfläche unter strengem Schutz stehen könnten, mit weitgehendem Verbot von intensiver Landwirtschaft in diesen Gebieten. Als Referenzszenario nutzten sie das Shared-Socioeconomic-Szenario 2 (SSP2), das auch für Berechnungen zu den Auswirkungen von Klimaveränderungen herangezogen wird. SSP2 beschreibt die zukünftigen globalen sozioökonomischen Entwicklungen auf Basis der bereits bestehenden Maßnahmen. Auf dieser Grundlage berechneten sie die Konsequenzen ausgeweiteter Schutzmaßnahmen für die menschliche Gesundheit und die Ernährungssicherheit.
Unter den beiden angenommenen Schutzszenarien würden im Jahr 2040 die Schutzareale vor allem im subtropischen Bereich liegen (55 Prozent im 50-Prozent-Szenario und 63 Prozent im 30-Prozent-Szenario). Damit würde die Landwirtschaft in nördlichere Regionen abgedrängt und auf Grund ungünstigerer Umweltbedingungen an Produktivität verlieren. Das hätte eine Verknappung der Lebensmittel zur Folge, während gleichzeitig der Bedarf bei steigender Weltbevölkerung weiterhin zunehmen würde. Das würde wiederum zu höheren Lebensmittelpreisen führen.
Gesündere Ernährung durch höhere Preise?
Steigende Lebensmittelkosten hätten verschiedene Auswirkungen: Besonders in den Industrieländern würde der Fleischkonsums sinken, die Zahl übergewichtiger Menschen abnehmen und durch Übergewicht (mit)ausgelöste Krankheiten wie Krebs, Diabetes und Schlaganfall seltener auftreten. Die Menschen wären unter dem Strich gesünder und hätten eine höhere Lebenserwartung.
Doch ganz anders sieht es in den ärmeren Weltregionen aus. Die Menschen dort könnten sich nicht mehr ausreichend grundversorgen. Die Folgen wären Unterernährung durch Kalorienmangel und ein Anstieg von Mangelerkrankungen und dadurch ausgelöste Folgeerkrankungen wie Krebs, Schlaganfall und Herz-Kreislaufkrankheiten. Die Lebenserwartung würde deutlich sinken.
Mangelhafte Ernährung und Untergewicht
Allein der reduzierte Konsum von Obst und Gemüse durch höhere Preise führt nach den Berechnungen global zu 377.000 zusätzlichen Todesfällen im Jahr 2060 (30-Prozent-Szenario) bzw. 691.000 Todesfällen (50-Prozent-Szenario). Dagegen stehen global 93.000 weniger Todesfälle pro Jahr (30-Prozent-Szenario) bzw. 297.000 weniger Todesfälle (50-Prozent-Szenario) durch den verringerten Konsum von rotem Fleisch. Global betrachtet würden daher die positiven Effekte eines geringeren Fleischkonsums in den Industrieländern durch die unzureichende Obst- und Gemüseversorgung in ärmeren Weltregionen zu Nichte gemacht.
Durch die Ausweitung von Schutzgebieten käme es auch zu einer Zunahme der Zahl von untergewichtigen Menschen. Das führt beim 50-Prozent-Szenario zu weiteren 236.000 Todesfälle im Jahr 2060. Besonders betroffen wären die Regionen, die jetzt schon die höchsten Anteile an Unterernährung in der Bevölkerung aufweisen: Südasien (22 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2019) und Subsahara-Afrika (16 Prozent). Alleine in diesen Regionen würden 196.000 zusätzliche Todesfällen auftreten. Intensive Schutzbemühungen würden also vor allem die Länder treffen, die jetzt schon eine instabile Ernährungssituation haben.
Nicht gegeneinander ausspielen
Die Forscher:innen betonen, dass zukünftige Schutzmaßnahmen höchstwahrscheinlich nicht den Umfang erreichen werden, die in den Szenarien vorgegeben waren. Sie stellen auch klar, dass sie mit den Untersuchungen keinesfalls den Wert von Schutzgebieten in Frage stellen wollen. Denn ein konsequenter Schutz der Biodiversität sei nach wie vor dringend notwendig. Es müssten aber sämtliche Konsequenzen beachtet werden, damit verschiedene Nachhaltigkeitsziele wie „Schutz der Landökosysteme“ (SDG15), „Ernährungssicherheit“ (SDG2) und „Gesundes Leben“ (SDG3) sich nicht gegenseitig torpedieren.
Statt Schutz-Szenarien mit einem kompletten Ausschluss der Landwirtschaft könnten zum Beispiel Schutzgebiete mit nachhaltiger Bewirtschaftung eingerichtet werden. Strengere Maßnahmen wären nur dort nötig, wo die Natur sehr sensibel auf Störungen reagiert. Nachhaltiger Tourismus in Schutzgebieten könnte in den betroffenen Regionen nach einer kürzlich erschienenen Studie sogar zu steigendem Wohlstand führen, so die Forscher:innen.
Möglich sind auch neue Ansätze in der Landwirtschaft wie das Vertical Farming, um den steigenden Lebensmittelbedarf zu decken und gleichzeitig Naturflächen zu schonen. Die Extremszenarien dieser Studie geben daher gewissermaßen nur den äußeren Rahmen vor, der bei der Findung geeigneter Kompromisse hilfreich sein könnte.
Quelle:
Henry, R.C. et al. (2022): Global and regional health and food security under strict conservation scenarios. In: Nature Sustainability, (3. Februar 2022), doi: 10.1038/s41893-021-00844-x.
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Titelbild: Natur und Landwirtschaft: Eine Studie beleuchtet den Zielkonflikt zwischen Ernährungssicherheit und Biodiversität. (Bildquelle: © Markus Breig, KIT)