Moderner Weizen gesünder als sein Ruf?

Heutige Weizensorten enthalten weniger Zöliakie-auslösende Proteine

31.08.2020 | von Redaktion Pflanzenforschung.de

In den letzten Jahren ist die Zahl der Menschen stark gestiegen, die von einer Zöliakie, Weizenallergie oder einer Gluten- oder Weizensensitivität betroffen sind. (Bildquelle: © iStock.com/spukkato)

In den letzten Jahren ist die Zahl der Menschen stark gestiegen, die von einer Zöliakie, Weizenallergie oder einer Gluten- oder Weizensensitivität betroffen sind. (Bildquelle: © iStock.com/spukkato)

Weizenprodukte sorgen heute bei weit mehr Menschen für gesundheitliche Beschwerden als noch vor 50 Jahren. Ein deutsches Forschungsteam hat nun untersucht, ob Veränderungen der Proteinzusammensetzung in Folge bestimmter Züchtungsziele ursächlich sein könnten.

Wer durch den Supermarkt läuft, trifft dabei inzwischen fast immer auch auf ein breites Sortiment glutenfreier Produkte. Denn Weizen steht in Verdacht, Unverträglichkeiten und allergische Reaktionen auszulösen. „Viele Menschen befürchten, dass moderne Weizenzüchtungen mehr immunreaktives Eiweiß enthalten als früher und dies die Ursache für eine gestiegene Erkrankungshäufigkeit ist“, sagt Darina Pronin vom Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie.

Konkret reden Mediziner über drei verschiedene Krankheitsbilder: Glutenunverträglichkeiten, Weizenallergien und die sogenannte Nicht-Zöliakie-Nicht-Weizenallergie-Weizensensitivität, abgekürzt NCGS. Kontrovers diskutiert wird dabei noch die Frage, ob in jedem Fall der Weizen tatsächlich ursächlich ist. Während NCGS bislang eine reine Ausschlussdiagnose ist, bei der eine Immunreaktion gegen ɑ-Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATIs) und bestimmte Zuckermoleküle als Ursache vermutet wird, gehen die beiden ersten Krankheitsbilder auf Abwehrreaktionen gegen Gluten- bzw. andere Weizenproteine zurück.

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Weizen ist eine der wichtigsten Kulturpflanzen. Doch die ertragsfokussierte Züchtung scheint nicht ursächlich zu sein für die Zunahme der Weizenunverträglichkeit in der Bevölkerung.

Weizen ist eine der wichtigsten Kulturpflanzen. Doch die ertragsfokussierte Züchtung scheint nicht ursächlich zu sein für die Zunahme der Weizenunverträglichkeit in der Bevölkerung.

Bildquelle: © Katharina Scherf / Leibniz-LSB@TUM

Widersprüchliche Ergebnisse in früheren Studien

Warum aber nimmt die Prävalenz dieser Krankheitsbilder zu? Neben häufigeren und besseren Diagnosen infolge eines gestiegenen Problembewusstseins könnten Veränderungen des menschlichen Immunsystems und der Lebensmittelverarbeitung diese Entwicklung erklären.

Im Verdacht steht aber auch die Weizenzüchtung: Moderne Sorten könnten ein größeres Potenzial besitzen, das Immunsystem zu reizen, als ältere Varietäten aus der Zeit vor 1950. Zwei bisherige Analysen zur Gesamtzahl der immunogenen Epitope moderner Weizensorten im Vergleich zu alten Varietäten lieferten gegensätzliche Ergebnisse. Nachdem in den vergangenen Jahren weitere Studien zwar mehrheitlich die Weizenzüchtung entlastet haben, aber letztlich kein eindeutiges Bild lieferten, hat nun eine große Studie aus Deutschland erneut keine Hinweise darauf gefunden, dass moderne Weizensorten besonders viel immunreaktives Eiweiß enthalten.

Für ihre Studie wählten die Forscher des Leibniz-Instituts für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München aus den Beständen der Genbank des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung für jedes Jahrzehnt von 1891 bis 2010 die zur jeweiligen Zeit bedeutsamsten fünf Varietäten deutschen Winterweizens aus. Um neben genetischen Faktoren auch Umwelteinflüsse zu berücksichtigen, baute das Team alle Varietäten in den Jahren 2015 bis 2017 an und ermittelte neben agronomischen Faktoren die Zusammensetzung der Proteine.

Ernteindex steigt, Proteingehalt sinkt

Wenig überraschend fand die Studie heraus, dass die durchschnittliche Wuchshöhe in den zwölf Jahrzehnten um rund 40 Prozent zurückgegangen und die Dichte der Ähren gesunken ist, während der Ertrag von 3,1 bis 4,9 Tonnen je Hektar auf bis zu 7,6 Tonnen je Hektar angestiegen ist. Der bis 1950 etwa bei 0,4 konstante Ernteindex als Maß für den Anteil der Körner an der oberirdischen Biomasse erhöhte sich seitdem auf bis zu 0,58.

Interessanter wird es beim Blick auf den Eiweißgehalt: Der ist über die vergangenen 120 Jahre leicht gesunken und variierte sowohl stark zwischen den fünf Varietäten eines Jahrzehnts als auch abhängig vom Anbaujahr in der Studie. Dafür sind variierende Umweltfaktoren verantwortlich. Insbesondere die Niederschlagsmenge fiel hier ins Gewicht, die Temperatur dagegen kaum.

Glutengehalt in Summe konstant

Um die Anteile der unterschiedlichen Proteinfraktionen unabhängig von Umwelteinflüssen vergleichen zu können, bildeten die Forscher den jeweiligen Mittelwert der drei Anbaujahre. Der Anteil von Albumin und Globulin variierte demnach zwischen 25,5 und 16,9 Prozent, ohne einen klaren Trend über die Zeit zu zeigen. Interessanter ist, dass der Anteil der Glutenfraktion, bestehend aus Gliadine und Glutenine, im Wesentlich über die Jahrzehnte konstant blieb. Dabei verringerte sich der Gliadin-Anteil mit der Zeit und bewegte sich heute zwischen 62,0 und 45,7 Prozent. Der Glutenin-Gehalt erhöhte sich und beträgt nun zwischen 17,1 und 33,1 Prozent.

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„Gliadine“ und „Glutenine“ unterscheiden sich in ihren molekularen Eigenschaften und beeinflussen so in unterschiedlicher Weise das Backverhalten eines Teiges. Gliadine spielen eine Rolle für die Viskosität und Dehnbarkeit eines Teiges. Die Glutenine bilden dagegen aufgrund ihrer Moleküleigenschaften ein durchgängiges Netzwerk, das für den Dehnwiderstand und die Elastizität des Teiges verantwortlich ist. Sie gehören in vernetzter Form zu den größten natürlich vorkommenden Eiweißmolekülen.

„Gliadine“ und „Glutenine“ unterscheiden sich in ihren molekularen Eigenschaften und beeinflussen so in unterschiedlicher Weise das Backverhalten eines Teiges. Gliadine spielen eine Rolle für die Viskosität und Dehnbarkeit eines Teiges. Die Glutenine bilden dagegen aufgrund ihrer Moleküleigenschaften ein durchgängiges Netzwerk, das für den Dehnwiderstand und die Elastizität des Teiges verantwortlich ist. Sie gehören in vernetzter Form zu den größten natürlich vorkommenden Eiweißmolekülen.

Bildquelle: © Giulio Perricone / Pixabay / CC0

Dass der Glutenin-Anteil mit der Zeit gestiegen ist, erscheint plausibel, da diese Proteine mit nützlichen Eigenschaften für das Backen verbunden sind. Die Erhöhung dieses Anteils war daher ein Ziel der Züchter.

Hochallergene Glutenproteine weniger enthalten

Ein wichtiges Ergebnis ist aber, dass ɑ- und ɣ-Gliadine im Vergleich zu älteren Sorten heute in geringeren Mengen im Weizen enthalten sind. Insbesondere ɑ-Gliadin gilt als hochallergener Proteintyp des Glutens. Ein Zusammenhang zwischen der züchtungsbedingten Veränderung der Proteinzusammensetzung und einer Zunahme von Zöliakie sowie NCGS erscheint den Forschern daher unwahrscheinlich.

Unter dem Strich konnte das Team einen weit größeren Anteil der Proteinvariabilität bei Winterweizen dem Anbaujahr zuweisen als den jeweiligen Varietäten. Denn: „Überraschenderweise hatten Umweltbedingungen wie die Niederschlagsmenge sogar einen größeren Einfluss auf die Eiweißzusammensetzung als die züchterischen Veränderungen“, erläutert Katharina Scherf am Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie.

Dennoch weisen die Forscher auf zwei Einschränkungen ihrer Studie hin: Zum einen untersuchte die Studie ausschließlich deutschen Winterweizen, der auch nur an einem Standort angebaut wurde. Zum anderen hatten 90 Prozent der Proben einen Proteinanteil von weniger als 100 Milligramm je Gramm Mehl, da die Proben nicht gedüngt wurden. So sollte vermieden werden, dass Menge und Art der Düngung das Ergebnis verzerren. Für ein abschließendes Bild seien daher Untersuchungen mit weiteren Weizensorten sinnvoll sowie zusätzliche Studien, die das immunoreaktive Potenzial der Sorten kausal mit Veränderungen in der Proteinzusammensetzung verbinden.


Quelle:
Pronin, D. et al. (2020): Wheat (Triticum aestivum L.) breeding from 1891 to 2010 contributed to increasing yield and glutenin contents but decreasing protein and gliadin contents. In: Journal of Agricultural and Food Chemistry, online (10. Juli 2020), doi: 10.1021/acs.jafc.0c02815.

Zum Weiterlesen:

Titelbild: In den letzten Jahren ist die Zahl der Menschen stark gestiegen, die von einer Zöliakie, Weizenallergie oder einer Gluten- oder Weizensensitivität betroffen sind. (Bildquelle: © iStock.com/spukkato)