Totgeglaubte leben länger
Pflanzenschutzmittel „wandern“ bis in den Ozean
Viele Pflanzenschutzmittelreste zersetzen sich nicht vollständig im Boden, sondern werden stattdessen ausgewaschen und gelangen über die Flüsse bis ins Meer.
Pflanzenschutzmittelreste in der Umwelt sind ein immenses Problem, das in der Forschung aber weniger Beachtung findet als zum Beispiel die Auswirkungen zu hoher Nährstoffeinträge. Pflanzenschutzmittel werden zwar weltweit in deutlich geringeren Mengen ausgebracht (etwa drei Millionen Tonnen pro Jahr) als Düngemittel (mehrere hundert Millionen Tonnen pro Jahr), ihre Auswirkungen könnten aber möglicherweise schlimmer sein - auch wenn sie auf den ersten Blick weniger sichtbar sind als die Folgen von Überdüngung. Trotzdem gibt es bis heute keine Standard-Berechnungsmethode, die das Verhalten von Pflanzenschutzmitteln in der Umwelt und ihren Transport insbesondere in Flüssen und Meeren prognostizieren kann. Daher hat ein Forschungsteam sich in einer neuen Studie mit dem Thema intensiver befasst.
Pflanzenschutzmittel in der Umwelt
Pflanzenschutzmittel (Pestizide) werden gegen bestimmte Ackerwildkräuter (Herbizide), Tiere (Insektizide und Akarizide) sowie Pilze (Fungizide) eingesetzt, um die Ernte vor Schädlingen zu schützen. Manche Mittel werden auch zur Regulierung des Pflanzenwachstums eingesetzt (zum Beispiel Hemmung der Internodienstreckung durch Ethylen, um die Halme von Getreide nicht zu lang werden zu lassen). Gerne wird propagiert, dass sie in kurzer Zeit zu ungefährlichen Stoffen abgebaut werden und dann keinen großen Einfluss auf die Umwelt mehr haben. Stattdessen wurde oftmals beobachtet, dass sie nur teilweise abgebaut und anschließend ausgewaschen werden und so die Grundwasserleiter, Flüsse und Ozeane erreichen. Die durchschnittlichen Konzentrationen von Pflanzenschutzmittelresten erreichen in manchen Flüssen mehrere Milligramm pro Liter, was eine erhebliche Schadstofffracht bedeutet. Dazu kommen Anreicherungen in Nahrungsketten, wobei die geltenden Grenzwerte zum Beispiel in Meeresfrüchten sogar um das Tausendfache überschritten werden können.
Ausbreitung im Boden
Die Forscher:innen modellierten die Ausbreitung von 92 gängigen Pflanzenschutzmitteln aus dem Jahr 2015. Sie gingen davon aus, dass etwa 940.000 Tonnen von den jährlich ausgebrachten drei Millionen Tonnen tatsächlich den Boden erreichten. Der Rest fällt durch Benetzung der Pflanzen und Winddrift aus den Berechnungen heraus. 82 Prozent der Pflanzenschutzmittel wurden im Boden zersetzt, von den übrigen 160.000 Tonnen blieben zehn Prozent als Rückstand im Boden und 7,2 Prozent wurden in tiefere Bodenschichten verfrachtet. Von den zehn Prozent der im Boden verbleibenden Pflanzenschutzmittel waren nach Schätzungen der Forscher:innen 3,2 Prozent in wässriger Lösung vorhanden (hauptsächlich Glyphosat mit 72,5 Prozent), die restlichen etwa sieben Prozent waren an organische Substanz adsorbiert (größtenteils die Herbizidwirkstoffe Metam und Metam-Natrium). Diese Gruppen seien besonders problematisch, so die Forscher:innen, weil in tieferen Bodenschichten die biologische Zersetzung deutlich schlechter ist als im Oberboden und die Pflanzenschutzmittel somit langsamer abgebaut werden. Außerdem besteht in tieferen Bodenschichten eine erhöhte Gefahr der Auswaschung ins Grundwasser.
Unvollständige Zersetzung
Aber auch die Zersetzung von Pflanzenschutzmitteln ist problematisch, denn manche ihrer Abbauprodukte (Metabolite) können lange im Boden verweilen und ebenso schädlich sein wie die ursprünglichen Substanzen, betonen die Forscher:innen. So entsteht aus dem Breitbandherbizid Glyphosat als Hauptmetabolit Aminomethylphosphonsäure (AMPA), das eine längere Verweilzeit im Boden hat als Glyphosat und ins Grundwasser gelangen kann. Bei bisherigen Berechnungen war man allgemein davon ausgegangen, dass sich die Substanzen im Boden direkt und nahezu komplett zu ungefährlichen Stoffen zersetzen und damit „verschwunden“ sind. Diese möglicherweise falsche Einordnung der Abbauraten könnte zu einer systematischen Unterschätzung der echten Mengen im Boden führen, warnen die Forscher:innen. Dazu gibt es für diese oftmals ebenfalls giftigen Abbauprodukte in der Regel keine Grenzwerte.
Transport in den Flüssen
Nach den Berechnungen der Forscher:innen landeten 730 Tonnen Pflanzenschutzmittel pro Jahr in den Flüssen. Besonders hoch war der Eintrag in Regionen mit intensiver Landwirtschaft und in Zonen mit hohen Niederschlägen, wie etwa den Tropen. Viele Flüsse überschritten die vorgeschriebenen Grenzwerte für verschiedene Pflanzenschutzmittel mindestens einmal pro Jahr, etwa 13.000 Flusskilometer hatten eine durchschnittliche Pflanzenschutzmittelkonzentration von mehr als einem Mikrogramm pro Liter. Die meisten Pflanzenschutzmittel fanden sich in großen Strömen wie beispielsweise dem Mississippi (Nordamerika), dem Parana, Amazonas, Uruguay, Araguaya und Magdalena (Südamerika), dem Ganges, Yangtze, Huangho, Perlfluss sowie dem Mekong und dem Irrawaddy (Asien), dem Niger, dem Kongo (Afrika) und dem Po (Europa). Sie transportierten mehr als 5.000 Kilogramm Pflanzenschutzmittelreste pro Jahr. Die häufigsten Wirkstoffe waren Glyphosat, Metam, Metam-Natrium (alles Herbizide), Chlorothalonil (Fungizid) und Chlorpyrifos (Insektizid).
Ankunft im Meer
Etwa noch 710 Tonnen Pflanzenschutzmittelreste gelangten so jährlich laut der Berechnungen über die Flüsse in die Ozeane. Auch wenn diese Zahl eher klein wirkt, belegen Studien, dass diese Stoffe das Leben von Wirbellosen beeinträchtigen und bisher unbekannte Auswirkungen auf küstennahe Ökosysteme wie Korallenriffe und die marine Nahrungskette und damit auch den Menschen haben können, betonen die Forscher:innen.
Eine Prognose zum Verhalten und Auswirkungen von Pflanzenschutzmittelrückständen zu geben, ist aufgrund der Komplexität der einzelnen Wirkstoffe, ihres Verhaltens in Boden und Wasser sowie ihrer Abbauprodukte schwierig. Die Forscher:innen fanden einen engen Zusammenhang zwischen der Freisetzungsrate von Pflanzenschutzmitteln und der Menge, die sich letztlich in den einzelnen Ökosystemen nachweisen ließ, und damit einen eher geringen Einfluss von Bodenzusammensetzung und Klima auf die Abbaurate. Das unterstreicht nach Ansicht der Forscher:innen die Wichtigkeit, die Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln stärker zu kontrollieren, anstatt von einem schnellen und vollständigen Abbau im Boden auszugehen. Erreicht werden könnte dies durch eine nachhaltigere Landwirtschaft.
Quelle:
Maggi, F. et al (2023): Agricultural pesticide land budget and river discharge to oceans. In: Nature, 13. Juli 2023. dx.doi.org/10.1038/s41586-023-06296-x
Zum Weiterlesen auf Pflanzenforschung.de:
- Glyphosatrückstände im Trinkwasser - Metallorganische Gerüstverbindungen für die Trinkwasserreinigung
- Bedrohung auf Umwegen - Glyphosat schädigt symbiontische Bakterien in Insekten
- Geflügelte Helfer - Vögel und Fledermäuse als Schädlingsbekämpfer
- Maßnahmen gegen einen „Stummen Frühling“ - Wie die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln neu gestaltet werden sollte
- Resistente Schadorganismen auf dem Vormarsch - Alternative Maßnahmen zu Pflanzenschutzmitteln notwendig
- Landwirtschaft in der Klemme - Die Landwirtschaft ist Haupttreiber des Klimawandels und schadet sich damit vor allem selbst
Titelbild: Pflanzenschutzmittel werden vor allem in der Landwirtschaft eingesetzt. (Bildquelle: © PublicDomainPictures / Pixabay)