„Durch Bioinformatik entlocke ich ‚Waisenpflanzen‘ ihre Geheimnisse“

Interview mit Nadia Kamal

28.06.2023 | von Redaktion Pflanzenforschung.de

Die Bioinformatikerin Dr. Nadia Kamal entschlüsselt das Erbgut von Kulturpflanzen, um ihr volles Potenzial zu entfalten. (Bildquelle: © Manuel Spannagl)

Die Bioinformatikerin Dr. Nadia Kamal entschlüsselt das Erbgut von Kulturpflanzen, um ihr volles Potenzial zu entfalten. (Bildquelle: © Manuel Spannagl)

Hafer wurde lange Zeit nur wenig von der Forschung beachtet. Dabei bietet er wie viele andere sogenannte „Waisenpflanzen“ Vorteile für Ernährung und Umwelt. Im Interview erläutert Dr. Nadia Kamal, wie Genomforschung dabei hilft, diesen Pflanzen ihre Geheimnisse zu entlocken und ihr Potenzial zu nutzen.

Dabei gibt sie auch Einblick, wie sie sich weitgehend autodidaktisch in die Bioinformatik eingearbeitet hat und wie sie heute ihre international gesammelten Erfahrungen unter anderem für mehr Gleichberechtigung in diesem Fach einbringt.

Pflanzenforschung.de: Frau Kamal, Sie erforschen das Erbgut von Nutzpflanzen. Ganz allgemein: Was verrät uns das Genom?

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Hafer bietet viele Vorteile für Ernährung und Umwelt, ist aber noch wenig erforscht.

Hafer bietet viele Vorteile für Ernährung und Umwelt, ist aber noch wenig erforscht.

Bildquelle: © Manuel Spannagl

Nadia Kamal: Zunächst brauchen wir Informationen über das Erbgut, um überhaupt zu verstehen, welche Gene die Pflanzen haben, wie viele und was die so machen. Manchmal gibt es Unterschiede zwischen verschiedenen Sorten der gleichen Art, also zum Beispiel zwischen verschiedenen Hafersorten. Dann kann man schauen, welche Gene sich unterscheiden und warum. Manchmal bringen diese Unterschiede Vorteile. So könnte eine Sorte Trockenheit besser tolerieren oder resistent gegen bestimmte Schädlinge sein. Dann kann man diese Information verwenden, um verbesserte Sorten zu züchten, die beispielsweise höhere Erträge haben und Klima-resilienter sind. Das ist angesichts des Klimawandels, der wachsenden Weltbevölkerung und der zunehmenden Gefahr für die Nahrungssicherheit besonders wichtig.
Des Weiteren schauen wir uns auch Unterschiede zwischen verschiedenen Pflanzenarten an. Zum Beispiel, warum Weizen Zöliakie auslösen kann und Hafer nicht. Das Erbgut hilft uns aber auch, die Evolution von Pflanzen besser zu verstehen. So können wir Erkenntnisse darüber gewinnen, wie die Domestizierung unserer wichtigsten Kulturpflanzen vonstattengegangen ist – was ziemlich spannend ist.

Pflanzenforschung.de: Welche Pflanzen interessieren Sie dabei?

Nadia Kamal: Neben unseren wichtigen Kulturpflanzen interessiere ich mich im Moment für „orphan crops“, also die „Waisenpflanzen“ unter den Nutzpflanzen. Sie wurden von Forschung und Züchtung bisher vernachlässigt, weil es zu schwierig war, mit ihnen zu arbeiten, oder weil sie ökonomisch einfach nicht so wichtig sind. Es gibt fast eine halbe Million Arten von Landpflanzen, aber 95 % der Kalorien erhalten wir von weniger als 50 Arten. Damit verschwenden wir ein riesiges Potenzial. Hafer ist so ein Beispiel. Er war auch lange eine „wissenschaftliche Waise“. Dabei ist er sehr gesund und eignet sich gut als Proteinquelle. Durch das gesteigerte Umweltbewusstsein und den Wunsch nach gesunder Tierprodukt-freier Ernährung bei immer mehr Menschen – mich inbegriffen – wird Hafer jedoch immer beliebter. Auch für die Forschung.

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Die Studie zum Hafergenom von Nadia Kamal und Co. schaffte es auf das Cover vom Fachjournal „Nature“. 

Die Studie zum Hafergenom von Nadia Kamal und Co. schaffte es auf das Cover vom Fachjournal „Nature“. 

Bildquelle: © Manuel Spannagl

Pflanzenforschung.de: Im vergangenen Jahr konnten Sie federführend eine Studie veröffentlichen, in der Sie das Erbgut von Hafer entschlüsseln. Was macht den Hafer so besonders?

Nadia Kamal: Er hat viele Vorteile für die menschliche Gesundheit. Zum Beispiel, weil er – anders als Weizen oder Mais – einen sehr hohen Anteil an Ballaststoffen, den sogenannten ß-Glucanen, enthält. Diese binden Wasser im Darm und verlangsamen so die Aufnahme von Zucker und Fett. So senkt Hafer den glykämischen Index einer Mahlzeit, Blutdruck und Blut-Cholesterol und ist daher gut für die Gesundheit des Herz-Kreislauf-Systems. Hafer hat aber auch einen geringeren CO2-Fußabdruck, weil er weniger Pestizide und Dünger braucht als andere Pflanzen, weniger stark prozessiert konsumiert wird  und zudem regional angebaut wird. Außerdem enthält Hafer nur so geringe Spuren von Gluten, dass er als Komponente einer gesunden und nahrhaften Gluten-freien Ernährung gilt.

Pflanzenforschung.de: Und aus bioinformatischer Sicht?

Nadia Kamal: Zum einen ist das Hafergenom sehr groß. Es ist ungefähr 3,5- bis 4-mal so groß wie das menschliche Genom und es hat sehr viele sich wiederholende Abschnitte. Zum anderen besteht es aus drei separaten Genomen, die sich vor vielen Tausend Jahren vereint haben. Diese Eigenschaften haben Genome anderer Pflanzen wie zum Beispiel Weizen zwar auch. Bei Hafer gab es aber sehr viel Austausch zwischen unterschiedlichen Chromosomen. Das führt zu einem sehr ungeordneten Bild und zu Problemen in der Züchtung, da es die Kreuzung verschiedener Linien erschwert. Da wir das Erbgut nun aber entschlüsselt haben, ist es jetzt viel einfacher, diese Fälle aufzudecken.

Pflanzenforschung.de: Worin liegen die größten Herausforderungen bei Ihrer Forschung?

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Beispielhafte Abbildung aus der Veröffentlichung des Hafergenoms. Gezeigt sind sogenannte Syntenie-Blöcke.

Beispielhafte Abbildung aus der Veröffentlichung des Hafergenoms. Gezeigt sind sogenannte Syntenie-Blöcke.

Bildquelle: © N. Kamal et al. 2022; CC-BY 4.0 / nature.com; siehe Publikationen

Nadia Kamal: Eine der Herausforderung ist gleichzeitig eine Chance - und zwar „big data“. Es wird immer einfacher und günstiger, riesige Mengen an Sequenz-Daten zu generieren. Aber diese Daten müssen auch organisiert und gespeichert werden. Effizientes und nachhaltiges „Data Management“ ist derzeit ein großes Thema in der Genomforschung und wird in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen. Eine weitere Herausforderung ist natürlich der Klimawandel. Lange wurde auf Ertrag gezüchtet. Jetzt stellt man fest, dass die domestizierten Pflanzen Resistenzen gegen die verschiedenen Stressfaktoren, wie zum Beispiel Dürre, zum Teil verloren haben. Daher erforscht man jetzt die genetische Diversität der Nutzpflanzen und sucht in den wilden Verwandten und den Vorfahren der heutigen domestizierten Sorten nach Resistenzen, um die Nutzpflanzen zu stärken und so die Nahrungsbedürfnisse der wachsenden Weltbevölkerung sicherzustellen.

Pflanzenforschung.de: Welche Erfolge konnten Sie schon erzielen?

Nadia Kamal: Wir hatten große Erfolge in der Entschlüsselung vieler Genome, angefangen bei Modellpflanzen wie Arabidopsis thaliana, über Tomate, Mais, Gerste, bis hin zu den riesigen und komplexen Genomen von Weizen und Hafer. Das hat zur Identifizierung einer Reihe von Resistenzgenen geführt, die nun auch für die Züchtung verwendet werden. Zurzeit werden unsere Projekte immer größer und wir studieren nicht nur ein Genom, sondern viele. Wir schauen uns die Unterschiede zwischen ihnen an und bringen diese mit den Eigenschaften der Pflanzen in Verbindung, um Gene für die gezielte Verbesserung von Nutzpflanzen zu identifizieren. Kürzlich waren wir in einem Projekt involviert, um das Genom der in Afrika heimischen Helmbohne zu entschlüsseln und zu analysieren. Das Projekt ist das erste, bei dem das Erbgut einer afrikanischen Pflanze unter der Führung von Forschenden aus Afrika veröffentlicht wird. Das Genom wird den Züchtenden ermöglichen, gezielt und schneller auf verbesserten Ertrag und andere positive Eigenschaften zu selektieren.

Pflanzenforschung.de: In Ihrer Laufbahn haben Sie sich von der Biologie aus immer mehr in Richtung Bioinformatik spezialisiert. Was ist für Sie das Interessante an dem Bereich?

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Auf der Fachtagung „International Oat Conference“ in Perth, Australien, hielt Nadia Kamal einen Vortrag über das Hafer-Genom.

Auf der Fachtagung „International Oat Conference“ in Perth, Australien, hielt Nadia Kamal einen Vortrag über das Hafer-Genom.

Bildquelle: © Manuel Spannagl

Nadia Kamal: Zum einen wollte ich gerne mit Kulturpflanzen arbeiten. Zum anderen ist Bioinformatik oder auch „Computational Biology“ heutzutage unabdingbar und ich wollte gerne den Umschwung dorthin machen. Die Entschlüsselung der Genome stellt die Grundlage dar, um unsere Nutzpflanzen erforschen zu können, genetische Diversität zu untersuchen und die Pflanzen schneller und gezielter zu verbessern. Dieser praktische Hintergrund und angewandte Aspekt gefällt mir sehr. Daher habe ich meine Masterarbeit und im Anschluss meine Doktorarbeit in der Gruppe „Genetik und Genomik der Pflanzen“ bei Bernd Weisshaar und Daniela Holtgräwe an der Universität Bielefeld gemacht. Für meine Masterarbeit habe ich dort im Labor Erbgut isoliert und wollte die bioinformatischen Analysen dann auch gerne selbst erlernen. Glücklicherweise wurde mir die Chance geboten, in der Gruppe zu verweilen und dort in Bioinformatik und Genomforschung zu promovieren - auch ohne viel Vorkenntnisse auf diesem Gebiet.  Über diese Chance bin ich daher sehr froh und dankbar.
 Ich musste mir sehr viel selbst beibringen – wie man das Terminal verwendet, über Programmieren in Python und R bis hin zu genomischen Analysen mit bioinformatischen Programmen. Anfangs war die Lernkurve steil, später gab es auch frustrierende Momente und ich musste Grenzen überwinden. Aber ich denke, das gehört zur Promotion auch dazu. Als Postdoc bin ich dann zur Gruppe „Plant Genome and Systems Biology“ von Klaus Mayer und Manuel Spannagl ans Helmholtz-Zentrum bei München gegangen. Ab und zu vermisse ich jetzt aber wieder ein molekularbiologisches Labor (lacht).

Pflanzenforschung.de: Sie waren für Ihre Forschung bisher in Australien, Mexiko und an verschiedenen Stationen in Deutschland – wie haben die unterschiedlichen Orte Sie geprägt?

Nadia Kamal: Ich finde es immer bereichernd, wenn man woanders hingeht – ein anderes Land, eine andere Kultur, Sprache und Aufgaben. Kaum eine Zeit ist besser dafür geeignet als die Promotionszeit. Geprägt hat mich natürlich jede Station. In Bielefeld habe ich Bioinformatik gelernt. In München habe ich die beste Postdoc-Stelle, die ich mir wünschen kann. In Australien stand ich bei 40 °C im Weinfeld und habe Ausschau nach Schlangen und Kängurus gehalten. Dort, am CSIRO in Adelaide, ging es darum, Weinsorten mit weniger Alkoholgehalt, aber ohne Geschmackseinbußen zu entwickeln. 
In Mexiko bin ich zurzeit am CIMMYT, dem „International Maize and Wheat Improvement Center“. Dort herrscht eine ganz andere Kultur und die Arbeit hat auch einen ganz anderen Fokus. Es geht in erster Linie darum, Züchtungslinien mit verbesserten Eigenschaften zu entwickeln – und zwar schnell. Während ich sonst in der Regel die Pflanzen selbst kaum zu Gesicht bekomme, hatte ich nun die Gelegenheit, riesige Weizenfelder mit vielen unterschiedlichen Pflanzen zu sehen.

Pflanzenforschung.de: Würden Sie es anderen jungen Forschenden generell empfehlen, Erfahrungen an unterschiedlichen Institutionen zu sammeln?

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Im mexikanischen Bundesstaat Sonora konnte die Bioinformatikerin Nadia Kamal riesige Weizenfelder besuchen.

Im mexikanischen Bundesstaat Sonora konnte die Bioinformatikerin Nadia Kamal riesige Weizenfelder besuchen.

Bildquelle: © Dario Cobetti

Nadia Kamal: Ja, auf jeden Fall. Ich denke, es ist rundum bereichernd, andere Kulturen – auch in der Forschung – kennenzulernen. Mir ist aber bewusst, dass es viel verlangt ist, ständig den Standort zu wechseln. Vor allem, wenn man durch Familie oder andere Faktoren ortsgebunden ist. Ich empfehle wärmstens, einen Auslandsaufenthalt während der Promotion zu planen. Da ist man meistens auch noch flexibler. Es gibt zum Beispiel für Promovierende Kurzzeitstipendien vom DAAD, die sich hervorragend dafür eignen. Auch während der Postdoc-Zeit besteht grundsätzlich die Möglichkeit für wissenschaftlichen Austausch. So könnte man für einige Monate eine andere Gruppe, mit der man kollaboriert, besuchen. Ich empfehle Promovierenden, sich noch während der Promotionszeit zu den verschiedenen Stipendienprogrammen beraten zu lassen. Manche Programme, wie Emmy-Noether, verlangen sogar ein gewisses Maß an Auslandserfahrung und sollten möglichst frühzeitig und präzise geplant werden. 
Auch kann man natürlich Postdoc-Stellen in mehreren Gruppen anstreben. Hier sollte man jedoch abwägen, ob die Vorteile, wie Flexibilität zu zeigen und neue Erfahrungen zu sammeln, die Nachteile, sich an ein neues Umfeld gewöhnen und neue Projekte anfangen zu müssen, überwiegen. Ich denke nicht, dass Produktivität und Erfolg grundsätzlich gesteigert werden, wenn man die Gruppe wechselt. Ich bin jetzt auch schon seit fünf Jahren am Helmholtz München bei Klaus Mayer, weil ich die Gruppe unglaublich gerne mag und dort sehr viel gelernt und geschafft habe. Um noch einmal etwas Auslandserfahrung zu gewinnen, bin ich nun für einige Zeit in Mexiko.

Pflanzenforschung.de: Zudem engagieren Sie sich für mehr Gleichberechtigung in der Bioinformatik.

 Nadia Kamal: Ja, das liegt mit sehr am Herzen. Frauen sind in der Bioinformatik weiterhin in der Minderheit. Ich war einmal bei einer Summer School für Cloud-Computing. Dort waren 80 Männer und ich. Die Ursachen sind sicherlich vielfältig. Aber es führt dazu, dass Frauen in dem Bereich weniger gut vernetzt sind und ihnen Vorbilder fehlen, die sie dazu ermutigen, ihre Ambitionen zu verfolgen. Beides möchte ich ändern. Ich bin daher Teil von “Women in Crop Science”, das Frauen zu mehr Sichtbarkeit und einem größeren Netzwerk in dem Bereich verhilft. Zum anderen möchte ich als Mentorin meine Erfahrungen und Kontakte mit jungen Frauen teilen. So möchte ich sie dabei unterstützen, Herausforderungen zu bewältigen und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen*.

Pflanzenforschung.de: Haben Sie vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg für Ihre Vorhaben!

 *Anmerkung der Redaktion: Auch die PLANT 2030 ACADEMY bietet ein Mentoringprogramm für junge Pflanzenforschende an. Bei Interesse an Mentoring können sich Promovierende und Postdocs sowie Studierende aus dem Bereich gern bei der PLANT 2030 Geschäftsstelle melden.


Im Text verlinkte Studien:

  • Kamal, N., Tsardakas Renhuldt, N., Bentzer, J. et al. "The mosaic oat genome gives insights into a uniquely healthy cereal crop". In: Nature 606, 113–119 (2022). doi.org/10.1038/s41586-022-04732-y
  • Corlett, R. T. "Plant diversity in a changing world: status, trends, and conservation needs". In: Plant diversity, 38, 10-16 (2016). doi.org/10.1016/j.pld.2016.01.001
  • Wettberg, E., T. M. Davis, and P. Smýkal. "Editorial: Wild Plants as Source of New Crops." In: Frontiers in Plant Science 11, 591554 (2020). doi.org/10.3389/fpls.2020.591554
  • Njaci, I., Waweru, B., Kamal, N. et al. "Chromosome-level genome assembly and population genomic resource to accelerate orphan crop lablab breeding". In: Nature Communications 14, 1915 (2023). doi.org/10.1038/s41467-023-37489-7

Zum Weiterlesen auf Pflanzenforschung.de:

Titelbild: Die Bioinformatikerin Dr. Nadia Kamal entschlüsselt das Erbgut von Kulturpflanzen, um ihr volles Potenzial zu entfalten. (Bildquelle: © Manuel Spannagl)